TV-Kritik Miosga: Arbeiten an der Abschreckung, vorbereiten auf den Krieg

vor 1 Tag 5

Amerika hat Schluss gemacht mit seiner länger schon schäbig behandelten Geliebten, mit Europa, mit uns. Und das sozusagen mit dem staatspolitischen Pendant zum Social Dissing, nämlich mit der öffentlich eiskalt mit dem ehemaligen Wertepartner abrechnenden „National Security Strategy“. In dieser neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA muss das geschasste Europa nun seit einigen Tagen lesen, dass es nicht nur schwach sei, sondern auch dekadent, undemokratisch, meinungsdiktatorisch und ohnehin am Rande des Zusammenbruchs, ja, der „Auslöschung“ stehe. Nehmen die Europäer, die vielfach mit Entsetzen und Angst reagieren, den Schrieb vielleicht zu ernst? Schließlich beginnt er schon mit dem irren Satz, die Regierung Donald Trumps („my administration“) habe die eigene Nation und die Welt gerettet, die nach vier Jahren der Schwäche und des Extremismus (durch die Regierung Joe Bidens) an den Rande der Katastrophe gebracht worden seien.

Und doch fällt das Lachen über das mitunter skurrile, in bewusst einfacher Sprache verfasste Papier schwer. Dafür ist die politische Entschlossenheit dahinter zu groß. Vom „Epochenbruch“ war denn auch schnell die Rede, unter anderem von dem ursprünglich als Polit-Gast in der Talkshow „Caren Miosga“ vorgesehenen SPD-Politiker und Vorsitzenden der Atlantik-Brücke Sigmar Gabriel. Zugleich war Gabriel einer derjenigen, die sagten, der Inhalt der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) könne eigentlich niemanden überraschen. Erforderlich sei einfach weiterhin, dass sich Europa innerhalb der Nato stärker aufstelle. Was denn nun? Epochenbruch oder nur ein weiterer Schritt in einem langen Entfremdungsprozess?

Beunruhigen und beruhigen zugleich

An Gabriels Stelle diskutierte dann bei Miosga doch der stellvertretende Vorsitzende der Atlantik-Brücke, der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, mit dem Politikwissenschaftler Nico Lange und der Journalistin Annett Meiritz darüber, wie Europa mit der neuen, volatilen Weltlage umgehen solle. Weniger weihnachtlich hätte diese letzte Sendung im Jahr kaum ausfallen können. Auffällig war, dass auch die erstaunlich konzentrierte und konstruktive Diskussion permanent zwischen zwei Positionen hin und her pendelte. Mal beschwor man die europäische Einigkeit und Kraft, weil endlich verstanden worden sei, dass wir für die eigene Sicherheit selbst zu sorgen hätten; dann wieder wurden arg düstere Szenarien ausgemalt, bei denen einem bange werden konnte.

Dabei kritisierte Nico Lange genau diese paradoxe Haltung: Es funktioniere nicht, „die Menschen gleichzeitig zu beunruhigen und zu beruhigen“. Vielleicht ist genau das aber nicht nur das Wesen einer politischen Talkshow, sondern der gegenwärtigen Situation gar nicht so unangemessen: Besorgt sein darf man allemal, in Panik auszubrechen, würde jenen in die Karte spielen, die gezielt auf Disruption setzen.

Eine Bürgschaft von 40 Milliarden Euro

Dass gegenwärtig in Berlin Gespräche über die Zukunft der Ukraine stattfinden, an denen neben Präsident Selenskyj amerikanische und russische Vertreter teilnehmen, wollten Röttgen und Lange beispielsweise als Zeichen europäischer Stärke und Diplomatie verstehen. Zuvor sei Europa schließlich oft außen vor geblieben, jetzt heiße die Devise: „Wir übernehmen diesen Prozess“. Man schaffe Fakten, indem man ein solches Treffen organisiere. Lange sah das ganz ähnlich, ergänzte aber auch: „Die Methode Daddy ist ans Ende gekommen.“ Das bezog sich weniger auf die Haltung der europäischen Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten als auf die frühe Strategie der „Koalition der Willigen“, durch Bittstellerei bei Trump etwas zu erreichen.

Mit dem geplanten Zugriff auf die russischen Vermögen in Europa, um damit qua Reparationsdarlehen die Ukraine zu stabilisieren – am kommenden Donnerstag fällt voraussichtlich die Entscheidung –, beweise Europa hingegen Handlungsfähigkeit. Zudem sei das Geld „dann vom Tisch“ und könne nicht mehr länger von der russischen Seite der amerikanischen angeboten werden (der 28-Punkte-Plan der USA zur Beendigung des Krieges in der Ukraine sah entsprechende Kooperationen vor). „Im extrem unwahrscheinlichen Fall“, dass Russland ohne Reparationen davonkomme, müsse Deutschland für 25 Prozent der vorgesehenen 160 Milliarden Euro Kreditsumme wohl einstehen, räumte Röttgen ein. Eine Alternative aber gebe es nicht, ergänzte Lange, denn eine nicht stabilisierte Ukraine komme uns noch viel teurer zu stehen. Das alles klang zwar möglicherweise teuer, aber beruhigend nach einem souveränen europäischen Plan.

Doch schon beim Blick darauf, worüber in Berlin unter anderem gesprochen wird, über Gebietsabtretungen nämlich (ob mit oder ohne Volksabstimmung), verdüsterte sich der Blick. Annett Meiritz merkte zu Recht an, dass damit inzwischen auch das Tabu gefallen sei, dass ein Angriffskrieg sich für den Aggressor nicht lohnen dürfe. Bedrückend ist in der Tat, dass dahinter gar nicht die Stärke Russlands steht, sondern die Schwäche Europas und die Weigerung der USA, weiterhin für Sicherheit und Frieden in Europa zu sorgen. Hier war es nun Röttgen, der sich zu einem beunruhigenden rhetorischen Ritt über das „Ende einer Ära“ aufschwang. Nach achtzig Jahren der Nähe zwischen Amerika und Europa im Hinblick auf Werte und Interessen herrsche nun „ein fundamental anderes Selbstverständnis der USA gegenüber Europa und auch gegenüber Russland“. Der Angriff Russlands auf die Ukraine werde beispielsweise als solcher gar nicht benannt in der neuen Sicherheitsstrategie. Und Meiritz konkretisierte, wie sich diese Programmschrift auch in anderer Weise an russische Positionen anlehne.

Da bremste nun wiederum Lange, der das NSS-Papier offenbar nicht überbewerten wollte. Ihn störe auch nicht besonders, wenn Trump keine Vision zu Europa habe, ihn störe vielmehr, „wenn Europa keine Vision zu Europa hat“. Zunächst einmal müssten wir nämlich einsehen, dass die Sicherheit Europas und die Sicherheit der Ukraine „das gleiche“ sei. Das bedeute, die Ukraine – gemeint war: militärisch – in die Lage zu versetzen, Präsident Putin an den Verhandlungstisch „zu zwingen“. Zudem wäre viel konsequenter vorzugehen gegen die russische Schattenflotte oder den Kauf von indischem Öl, das im Wesentlichen russisches Öl sei.

Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind nichts wert

Hier wurde das zögerliche, inkonsequente, zerstrittene Europa nun wieder so klein, dass man fast die Hoffnung fahren lassen wollte, wenn nicht nun wieder Norbert Röttgen eingesprungen wäre mit der Warnung davor, alles kleinzureden. Man habe sich zu lange auf die USA verlassen, durchaus, aber: „Wir haben schon verstanden.“ Und dann zählte er alle Euromilliarden auf, die allein hierzulande für die Verteidigung eingeplant sind.

Und so ging es weiter hin und her zwischen pessimistischer Lageeinschätzung und vage hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung. Beinahe verzagt wirkte etwa Röttgens Position in Bezug auf die neuerdings oft beschworenen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Diese liefen schließlich auch ohne NATO-Beitritt – Röttgens Wunschszenario, aber inzwischen völlig unrealistisch – auf so etwas wie eine Beistandspflicht hinaus. Wenn man glaube, solche Garantien seien mit US-Beteiligung möglich, mache man sich etwas vor. Welche amerikanische Regierung werde denn Truppen schicken, wenn Russland die Ukraine wieder angreife? „Diese jedenfalls nicht.“ Und auch Deutschland dürfe nicht Kriegspartei werden.

Die NATO warnt vor einem großen Krieg

Welche Perspektive man der Ukraine dann überhaupt noch anzubieten hat, wurde nicht weiter erörtert. Stattdessen zeigte Caren Miosga als endgültigen Stimmungskiller einen Ausschnitt aus der vieldiskutierten Rede, in der NATO-Generalsekretär Mark Rutte vor wenigen Tagen in Berlin Europa als „nächstes Ziel“ Russlands bezeichnet hat. Rutte schwor die Europäer auf einen Krieg ein, „von einem Ausmaß, wie es unsere Großeltern und Urgroßeltern erlebt haben“: „Zerstörung, Massenmobilisierung, Millionen Vertriebene“.

Nico Lange störte diese martialische Wortwahl nicht sonderlich, so müsse man unter Erwachsenen reden können. Er wollte das freilich eher als Weckruf begreifen, endlich die „Botschaft der Abschreckung“ zu senden, damit ein solches Szenario eben nicht eintrete. Denn inhaltlich stimme er mit Rutte überein: „Es geht doch nicht um den Donbass.“ Putin habe durchaus die Zerstörung der bisherigen europäischen Ordnung im Blick.

Auch Annett Meiritz zeigte sich skeptisch, was die Zukunft angeht. Sie neige nicht zur Schwarzmalerei, aber man müsse konstatieren, dass sich in den USA Donald Trump im Moment niemand mehr wirklich in den Weg stelle. In den Institutionen würde Personal gezielt ausgetauscht, Trump habe zudem den Supreme Court in der Hand. Da wiederum wollte dann Norbert Röttgen der Beunruhigung etwas Beruhigung entgegensetzen, und er verwies darauf, dass die NATO immerhin noch existiere. Sie stehe im amerikanischen Parlament so wenig in Frage wie eine grundsätzliche – wenn auch kleiner gewordene – Solidarität mit der Ukraine. Es gebe also rote Linien, auch in der Republikanischen Partei. Würden aber im Zweifel, wenn der von Rutte imaginierte große Krieg Russlands gegen Europa begänne, die USA zum Beistandsparagraphen stehen? Ohne diese Gewissheit ist schließlich auch die NATO nicht mehr viel wert – solange die europäischen Länder nicht im Sinne von Nico Lange militärisch deutlich stärker geworden sind.

Viel Potential, noch mehr Sorgen

Einig war man sich schließlich darin, dass sich Europa den herablassenden Ton, in dem in der Nationalen Sicherheitsstrategie über Europa gesprochen werde, verbitten müsse. Das gelte laut Röttgen auch für die unverblümt angekündigte Einmischung der USA in die europäische Politik im Sinne einer Unterstützung rechtsnationaler Parteien. Das klang nun doch wieder äußerst defensiv, und so war es fast zwingend, das Pendel noch einmal in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. Auch wenn die alte Zeit nicht zurückkehren werde, selbst bei einem möglichen Sieg der Demokraten bei den US-Wahlen in drei Jahren nicht, liege es doch an uns, mit dieser Zeitenwende umzugehen. „Wir haben viel Potential“, formulierte Röttgen einen versöhnlichen Schlusssatz.

Doch da grätschte Lange doch noch einmal hinein: „Aber dann muss Europa vor allem handeln.“ Gut, auch damit könnte man leben. Aber Meiritz ließ es sich nicht nehmen, quasi im Abspann noch aufzuzählen, dass in Deutschland, Großbritannien und Frankreich rechtspopulistische Parteien derzeit schon auf Platz 1 stünden, was in etwa bedeuten sollte, dass die Zeit der selbstbestärkenden, aber meist folgenlosen „Wir müssen“-Sätze, von denen man in der vergangenen Stunde wieder einige gehört hatte, allmählich abläuft. Da blieb Caren Miosga nur noch, den nun doch vielleicht eher beunruhigten als beruhigten Zuschauern leicht gequält „sehr schöne Weihnachten“ zu wünschen.

Die gesamte Sendung, die ohne die übliche Streiterei auskam, hatte etwas von einer ersten Therapiesitzung nach einem Beziehungscrash, in der man erst einmal die Affekte sortiert und das Geschehene rational zu begreifen lernt. Europa wurde so oft eben noch nicht verlassen; wir sind noch in der Trauerphase. Das Resümee der beunruhigenden Sendung aber war beruhigend einfach: Im Zangengriff zwischen dem Liebesentzug aus dem Westen und der Aggression aus dem Osten ist Schwäche keine Option. Stärke aber bemisst sich nicht allein in Waffen, sondern auch in Überzeugungen und dem Stellen der Feinde Europas im eigenen Land.

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