Hamburger SV ist nach 2555 Tagen zurück in der Bundesliga: Er ist wirklich wieder da

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Als um 22.25 Uhr alle losrannten, sah man zum ersten Mal, in welcher Überzahl der Hamburger SV an diesem Abend gegen Ulm gespielt hatte. Bis dahin hatte man die zahlenmäßige Überlegenheit schließlich nur gehört, die ununterbrochenen Gesänge der 57.000 Fans im Hamburger Volksparkstadion. Selbst nach dem frühen Gegentorschock nach sieben Minuten zum 0:1 sangen die Anhänger einfach weiter.

Jetzt, mit dem Platzsturm der Fans, war die Überzahl auch unten auf dem Feld zu sehen, wo der HSV den SSV Ulm mit 6:1 in die Drittklassigkeit und sich selbst zurück in die Bundesliga schoss. Zehntausende Fans und ihre Mannschaft gegen elf Ulmer.

Um 22.25 Uhr waren sie alle am Ziel: sieben Jahre Zweitklassigkeit, 2555 Tage, eine Ewigkeit im Fußball. Sie ist vorbei. Der Hamburger SV ist zurück. Wirklich.

»Es ist ein einzigartiger Moment. Dieser Verein und seine Fans, auch das ist einzigartig«, sagte Davie Selke über den Abend der Erlösung, der so wild gefeiert wurde, dass es noch beim Platzsturm Schwerverletzte gab.

 Einer der großen Gewinner der Saison

HSV-Stürmer Selke (mit Maske): Einer der großen Gewinner der Saison

Foto: Oliver Ruhnke / IMAGO

Der Stürmer kam im vergangenen Sommer und ist mit 22 Treffern wahrscheinlich der Held der Saison. Gegen Ulm hatte er kurz vor der Halbzeit das 3:1 erzielt und danach so emotional gejubelt, dass das Volksparkstadion zu explodieren schien.

Schon beim abgewehrten Elfmeter von Torwart Daniel Heuer Fernandes beim zwischenzeitlichen 1:1 war das Stadion so laut, dass der Stadionsprecher hinterher vom lautesten Volksparkstadion der Geschichte sprach. Eine Flut von Emotionen, als ob ein Damm gebrochen wäre.

»Das ist der größte Moment, den ich mir hätte vorstellen können«, sagte Trainer Merlin Polzin. Angreifer Robert Glatzel sagte: »Der geilste Verein Deutschlands ist wieder da.«

Mit Superlativen sollte an diesem Abend niemand sparen.

Als der HSV am 12. Mai 2018 aus der Bundesliga abgestiegen ist, mag manch einer die Zweitklassigkeit als kurzzeitigen Zustand betrachtet haben. Auch hier dachte der HSV dann eher größer.

Der HSV war in seiner Zweitliga-Ära oft wie ein Unfall, bei dem man nicht wegschauen konnte. Ein Verein mit immer neuen Plot-Twists. Kein Wunder, dass der Fußballgott von dieser Saga insgesamt sieben Staffeln bestellt hat.

In Wahrheit hat der HSV diese Seifenoper selbst in die Länge gezogen. Fast immer hatte er den höchsten Etat und Personalaufwand der Liga, zu wenig machte er aus diesen Möglichkeiten. Auch in dieser Saison hat der HSV nach dem 33. Spieltag mehr Spiele nicht gewonnen (17) als gewonnen (16). Die maximal noch möglichen 62 Punkte hätten in den vergangenen vier Jahren nicht für den direkten Aufstieg gereicht. Die Konkurrenz meinte es in diesem Jahr gut mit dem HSV.

Es wäre aber falsch, die Geschichte des HSV nur mit Pleiten, Pech und Pannen zu erzählen. Der HSV war immer nah dran am Aufstieg. Dass es auch anders geht, zeigt gerade Schalke 04, ein anderes Schwergewicht. Tief gefallene Großvereine gibt es genug, der HSV ist keiner davon geworden.

 »Für mich als leidenschaftlicher Biertrinker ist das kein Problem«

Trainer Polzin (3. v. l.): »Für mich als leidenschaftlicher Biertrinker ist das kein Problem«

Foto: Christopher Neundorf / EPA

»Wir waren sieben Jahre kein Erstligist«, sagte Polzin nach dem Aufstieg: »Aber wir waren nie ganz weg.« Er sagte das kurz vor Mitternacht, komplett durchnässt und verklebt, nachdem die Mannschaft ihn gerade bei der Pressekonferenz mit Bier überschüttet hatte. »Für mich als leidenschaftlicher Biertrinker ist das kein Problem.«

Polzin nannte den Tag dann noch einen ganz besonderen, »der für immer in meinem Herzen bleiben wird, weil der HSV fest in meinem Herzen ist«.

Der Junge aus Bramfeld

Der 34-Jährige wuchs im Hamburger Stadtteil Bramfeld auf und stand als Jugendlicher in der Nordkurve, mit 21 Jahren arbeitete er erstmals als Trainer im Nachwuchsleistungszentrum des HSV. Im vergangenen Winter wurde Polzin nach der Trennung von Steffen Baumgart schließlich dauerhaft als Cheftrainer eingesetzt.

Jetzt saß er dort auf dem Podium, mit Bier begossen, und wurde von den Großen umarmt: Sportvorstand Stefan Kuntz drückte ihn an sich, später kam HSV-Urgestein Horst Hrubesch noch dazu und wollte Polzin gar nicht mehr loslassen. Als wolle er ihm sagen, dass er nun einer von ihnen sei. Einer der Legenden. Der erste Bundesligaaufstiegstrainer der HSV-Geschichte.

Polzin hat den besten Punkteschnitt aller Hamburger Zweitligatrainer. Was das für die Bundesliga bedeutet, wird sich zeigen. Durch den Aufstieg verlängert sich sein Vertrag jedenfalls um ein Jahr. Kuntz sagte dazu im Witz: »Man kann ja keinen Trainer wegschicken, der nach sieben Jahren aufsteigt.«

 Der Abend der Erlösung

Platzsturm im Volksparkstadion: Der Abend der Erlösung

Foto: Eibner-Pressefoto / Marcel von Fehrn / Eibner / IMAGO

Es ist schon verrückt, wie viele Trainer der HSV in der Vergangenheit ausprobiert hat und am Ende hatte man den scheinbar richtigen Mann seit Ewigkeiten in den eigenen Reihen.

Polzin war bereits Co-Trainer unter den am Aufstieg gescheiterten Ex-Trainern Daniel Thioune, Tim Walter und Baumgart. Einerseits könnte man jetzt sagen, dass er damit eine Mitschuld an den vielen Nichtaufstiegen der Vergangenheit trägt.

Andererseits unterscheidet er sich grundlegend von seinen ehemaligen Chefs. Er ist keiner, der eine Mannschaft mit härteren Tönen bearbeitet (Baumgart), obwohl die Charaktere in der Mannschaft damit nicht klarkommen. Er ist kein Taktikrevolutionär (Walter), obwohl so mancher Abwehrspieler schon lange nach Hilfe schreit.

Polzin hat den Verein von innen kennengelernt, hat gesehen, was schiefläuft, gesehen, wo Potenzial ist, und daraus seine Schlüsse gezogen.

Leute, die dem Verein nahestehen und schon viele Trainer erlebt haben, sagen, Polzin sei das Beste, was dem HSV in letzter Zeit passiert sei. »Sein Anteil ist riesengroß, weil er uns immer vertraut und uns großartig auf den Gegner einstellt«, sagte Selke hinterher.

Selke, noch so eine Geschichte. Der 30-Jährige war in seiner Karriere oft ein Versprechen, dann aber auch immer wieder eine Enttäuschung. Im vergangenen Jahr stieg er mit Köln ab. Dass er ausgerechnet beim Klub der ständigen Enttäuschungen nun am Zenit zu stehen scheint, als Stimmungsmacher und Torjäger, das ist eine besondere Pointe.

 Torjäger und Motivator

Spieler Selke am Mikrofon: Torjäger und Motivator

Foto: Christopher Neundorf / EPA

Sieben Jahre war der HSV weg, die Kanzlerin hieß im Hamburger Abstiegsjahr 2018 Angela Merkel, von Corona hatte noch niemand gehört, der Trainerneuling Julian Nagelsmann hatte Hoffenheim auf den dritten Platz geführt, Vizemeister war Schalke 04. Und das DFB-Versagen bei der WM in Russland wenige Wochen nach dem HSV-Abstieg hatte niemand kommen sehen. Andere Zeiten.

Der HSV kehrt in eine andere Bundesliga zurück, in eine Liga, in der Frankfurt oder Freiburg mit strategischer Arbeit das geworden sind, was der HSV einmal sein wollte: ambitionierte Erstligisten. Gleichzeitig hat dieser Verein der Liga gefehlt. Der Aufstiegsabend gegen Ulm, die Party, die bis weit nach Mitternacht ging, mit Pyrotechnik in den Gängen des Stadions, war dafür Beweis genug.

Der HSV hat einen höheren Zuschauerschnitt als die Bundesligisten Union Berlin, Heidenheim und Holstein Kiel zusammen (51.835), aktuell liegt der Zuschauerschnitt der Hamburger bei 56.282 Fans pro Heimspiel, 14 Heimspiele waren ausverkauft.

Die Begeisterung rund um den HSV wird der Bundesliga guttun.

Nur: Wie gut wird die Bundesliga dem HSV tun?

Werden die Fans auch dann noch zu den in Hamburg horrenden Ticketpreisen in den Volkspark pilgern, wenn der HSV irgendwo im Mittelfeld der Liga herumdümpelt? Schafft es der Verein endlich, Spieler aus der teuren Jugendakademie dauerhaft in die erste Mannschaft zu integrieren, nachdem es schon in der zweiten Liga nicht geklappt hat? Trifft Selke auch in der Bundesliga so regelmäßig wie jetzt, nachdem ihm das in der Vergangenheit kaum gelang? Vertraut man Polzin, auch wenn es Gegenwind gibt?

Fragen, die beantwortet werden müssen. Die Bundesliga wird noch eine gewaltige Kraftprobe für den HSV. Doch das sind keine Fragen für diesen Abend, nicht für die Nacht der großen Aufstiegsfeier. Schließlich soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Und davon hatte der HSV in den vergangenen Jahren nicht allzu viele.

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