Mit seiner poetischen Verve und melancholischen Ironie gehört Georgi Gospodinov zu den originellsten Stimmen der europäischen Literatur. In seinem 2011 erschienenen Roman „Physik der Schwermut“ arbeitet er die Absurditäten der kommunistischen Geschichte seiner Heimat Bulgarien heraus. „Zeitzuflucht“, 2022 unter anderem mit dem Internationalen Booker-Preis ausgezeichnet, verhandelt die neue Besessenheit Europas mit der Vergangenheit. Angesiedelt in einer speziellen Demenzklinik, deren Zimmer im Stil verschiedener Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts eingerichtet sind, wird der Roman von einem Erinnerungs-Tsunami regelrecht überrollt.
Gospodinovs experimentierfreudiges Werk, das Lyrik, Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Opernlibretti umfasst, besticht dabei immer durch den grandiosen Erzähler. In seinem neuen Roman schlägt der 1968 in Sofia geborene Schriftsteller nun einen ganz anderen, unerwarteten Ton an. „Der Gärtner und der Tod“ erzählt mit großer Zartheit und Demut von Krankheit und Tod des Vaters. Zwar rettet sich der Autor immer dann, wenn es zu schwer wird, mit den lustigen Geschichten seines Vaters „für alle Fälle“ ins Lachen. Etwa wenn er von dessen gescheiterten Versuchen als Unternehmer nach dem Fall der Mauer erzählt. Der Humor wird ihm zum Mittel gegen die Traurigkeit. Nie zuvor jedoch hat Gospodinov uns so intime und wehmütige Einsichten in sein Innerstes gestattet.

Auch dieser Roman ist formal gestaltet, aber im Zentrum stehen der persönliche Schmerz und die Erschütterung über den Tod des Vaters, den er in seinen letzten Wochen begleitet, während er sich an gemeinsame Tage erinnert. Dabei schreibt Gospodinov den individuell erlebten Tod in die Weltmythologie ein, wenn er sich auf die Bibel, Epikur und Homer bezieht. Auch Odysseus beobachtete seinen alten Vater Laertes bei der Gartenarbeit. Dann nimmt er Bezug auf Susan Sontag und Borges, dessen Grabinschrift in Genf ihm den Lieblingssatz des Vaters entlockt: „Halb so wild“.
Der Tod spricht Latein
„Der Gärtner und der Tod“ ist Memoir, Bekenntnis und Momentaufnahme zugleich. In 91 kurzen Kapiteln erfasst das Buch das Elend am Ende eines Lebens; Inkontinenz, Schmerz, körperlichen Verfall. Unerträglich wird die Grausamkeit, wenn Gospodinov die Befunde seines Vaters zu verstehen versucht und feststellt, dass Latein nicht nur eine tote Sprache ist, sondern die Sprache des Todes selbst: „Der Tod spricht Latein.“
Es geht um Transzendenz, um Sterbehilfe und um die Überlebensstrategien Hinterbliebener. Als Metapher zieht sich der Garten durch den gesamten Text. Hier, bei den Schneeglöckchen und Rosen, die der Vater liebevoll gepflegt hat, geschieht das Wunder des Lebens, wenn der Gärtner auf seinem letzten Weg zurückkehrt, um eins zu werden mit dem Garten.
Emotionale Offenbarung
Die Rückkehr wurde zu Lebzeiten bereits eingeübt, als der viel beschäftigte Schriftstellersohn durch die Welt hetzte – von Lesung zu Preisverleihung und Poetikdozentur –, während der Vater im Garten auf ihn wartete. Dort gingen nicht nur die Uhren anders, auch sein Radius war eingeschränkt. Tatsächlich erzählt der schmale Roman die Geschichte einer ganzen Generation, die wie der Vater im ehemaligen Ostblock sozialisiert wurde und anders als der Sohn nach 1989 nicht die Welt bereiste, sondern mehrheitlich im Land blieb.
Im Sozialismus waren die Väter vor allem abwesend, erinnert sich Gospodinov. Sie waren in Fabriken, Kolchosen und Versammlungen anzutreffen, nicht aber zu Hause bei der Familie. Vielleicht hat das auch jene Kultur des Schweigens befördert, die Gospodinov der bulgarischen Kultur attestiert und die dieser Vater-Sohn-Erzählung zugrunde liegt. Die Unfähigkeit, starke Gefühle wie „Ich liebe dich“ oder „Es tut mir leid“ auszudrücken, steht in lebhaftem Kontrast zu Gospodinovs emotionaler Offenbarung.
Wenn die Welt aufs Neue beginnt
Vieles spricht dafür, dass wir es in „Der Gärtner und der Tod“ nicht mit einem Alter Ego zu tun haben, sondern mit der Stimme des Autors selbst. Jedenfalls meint man bei der Lektüre eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu bekommen, wie Gospodinov denkt und fühlt, als Bruder, als Ehemann, Vater und Sohn. Die Zäsur des Todes hat sein Leben in ein Vorher und ein Nachher geteilt wie Moses das Rote Meer. Doch wird der Tod nicht nur als schrecklich, sondern auch fast als versöhnlich dargestellt, wenn er Menschen dazu befähigt, Widerstände und alte Feindschaften zu überwinden.

„Mein Vater ist gestorben und Mein Vater stirbt sind zwei ganz unterschiedliche Sätze“, heißt es zu Beginn des 33. Kapitels. Der erste Satz sei eine Tatsache, der zweite ein Roman, in dem sich „Hoffnung und Verzweiflung abwechseln“. Die Spannung entsteht durch den Wechsel zwischen dem, was dem Tod vorausgeht, und dem Sterben selbst. Mal ist der Vater bereits gestorben, dann wieder quicklebendig. Doch wie Scheherazade verschiebt der Autor ein ums andere Mal den Moment des Todes selbst. Lieber springt er hin und her, hält sich an keine Chronologie und schreibt dem Text so die eigene Erschütterung ein.
Die Erfindung der Einsamkeit
In konzentrischen Kreisen dreht sich alles um die Krankheit des Vaters, deren Auswirkungen durch den gesamten Text metastasieren. Wenn schließlich der Vater den Sohn bittet, sich neben ihn zu legen und seine Hand zu halten, und der ihn nicht in den Tod gehen lassen will, ist das unendlich traurig und zärtlich zugleich – und widerlegt die zuvor aufgestellte These von der egozentrischen Trauer des Hinterbliebenen in einer verlassenen Welt.
Viele Schriftstellersöhne haben sich dem Sterben der Väter literarisch genähert, ob Michael Lentz in „Schattenfroh“, Paul Auster in „Die Erfindung der Einsamkeit“ oder aktuell Feridun Zaimoglu in „Sohn ohne Vater“. Gospodinov hat mit seinem Buch, das er per Hand schrieb, begonnen, als der Vater noch lebte. Über die Kindheitserinnerungen und Familiengeschichten wird der Roman zuletzt zu einem Buch mehr über das Leben als über den Tod. „Worüber sprechen wir, wenn wir über den Tod sprechen? Über das Leben natürlich, über seine ganze bezaubernde Unbeständigkeit“, schreibt der Trauernde, und bald scheint es so, als würde nach diesem Tod die Welt aufs Neue beginnen. Nicht nur die Geburt der Tochter und der Tod des Vaters sind existenzielle Grenzerfahrungen, sondern der Erzähler selbst wird hier zur Grenzfigur zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Was bleibt? Nicht viel mehr als ein kleines schwarzes Notizbuch. Die Notate lassen sich als eine Art Testament verstehen, denn das Tagebuch des Vaters ist gespickt mit Hinweisen zur Gartenpflege. Zuvor war der Sohn verzweifelt, weil ihn niemand gelehrt hatte, wie man stirbt. Jetzt weiß der Verlassene, was zu tun ist. Der Garten wird ihm in diesem wundersamen Roman zum Zufluchtsort.