Eine historische Figur kann man auf mehrere Arten im Kino porträtieren, dokumentarisch, fiktional oder in einer Mischform. Bei Kafka aber scheinen alle, die sich ihm mit der Kamera nähern, vor der Möglichkeit des Dokumentarischen zurückzuschrecken; einen Film, der sich, wie die Biographie von Reiner Stach, ganz auf die Zeugnisse seiner Existenz und seiner Epoche einließe, gibt es jedenfalls nicht. Man muss dieses so gewöhnliche, nur durch das Werk spektakuläre Leben offenbar immer wieder erfinden, um es erzählen zu können. Im Jubiläumsjahr 2024 haben das zwei Kafkafilme gemacht, David Schalkos sechsteilige Fernsehserie „Kafka“, die den Dichter bilderbogenselig von der Kindheit bis zum Tod begleitete, und Georg Maas’ und Judith Kaufmanns Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“ nach dem Roman von Michael Kumpfmüller, der sich auf das letzte Lebensjahr und die Liebesbeziehung zu Dora Diamant beschränkte – und so das, was sie an Chronikhaftem verlor, an Genauigkeit und Intensität dazugewann.
Jetzt kommt zu den beiden neuesten Kafka-Variationen eine dritte, Agnieszka Hollands „Franz K.“. Es ist die zweite Zusammenarbeit der polnischen Regisseurin mit dem tschechischen Drehbuchautor Marek Epstein, und wie in „Charlatan“, ihrem ersten gemeinsamen Film, geht es darum, die Geschichte in die Gegenwart hinein zu holen, indem man ihr ihre Fremdheit nimmt, ihre Verkleidungen in Sprache, Kulisse und Dekor. Diesmal aber gehen Holland und Epstein mit der Brechstange vor. Sie holen Kafka aus dem Museum der Imagination, indem sie das reale Kafka-Museum und die anderen Gedenkorte des Dichters in Prag besichtigen. Sie durchschießen die Fiktion mit dokumentarischen Einschüben. Und sie treiben das Belehrende, das keine Schriftsteller-Biopic ganz abschütteln kann, auf die Spitze, indem sie einer Touristenführerin das letzte Wort geben, über Kafka wie über uns.

„Franz K.“ ist also beides, ein Spielfilm und ein Filmessay, eine Phantasie und ein Dokument. Das wäre ein vielversprechender Ansatz, wenn der zweigeteilte Blick, die Zersplitterung und Diskontinuität in die Form der Erzählung selbst eingingen. Aber in der Bebilderung von Kafkas Leben hält sich Agnieszka Holland strikt an die Chronologie. Eine Szene im Friseursalon führt von der Kindheit ins Erwachsenenalter, dann folgen die aus sämtlichen Kafka-Biographien bekannten Episoden: die Begegnung mit Max Brod, die Bekanntschaft mit Felice Bauer, der „Gerichtstag“ mit Felice und ihrer Freundin Grete Bloch im „Askanischen Hof“ in Berlin, der Lachanfall Kafkas im Direktorenbüro der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt, der Aufenthalt im Sanatorium „Jungborn“, der Blutsturz beim Ausbruch der Tuberkulose, die Affäre mit Milena Jesenská.
Seinem Vorbild wie aus dem Gesicht geschnitten
Dass der Kinodebütant Idan Weiss seinem Vorbild wie aus dem Gesicht geschnitten ist und der geniale Peter Kurth den tyrannischen Vater verkörpert, öffnet dem Film alle Türen, aber je länger man dabei zusieht, wie er um sie herumstolpert, desto weniger wird man von den gelungeneren Momenten berührt, die es in „Franz K.“ auch gibt, etwa Kafkas Blickwechseln mit seiner Schwester Ottla (Katharina Stark), den Gesprächen mit Max Brod (Sebastian Schwarz) oder den Szenen auf der Moldau, in denen der Dichter selbstvergessen seiner Ruderleidenschaft frönt.
Es muss eben wieder der ganze Kafka sein bei Epstein und Holland, und dieser Zwang zur Vollständigkeit bricht dem Film das Rückgrat, weil er alles, was erzählt wird, penetrant ins Symbolische zieht – eine Kakerlake, die Vater Hermann auf dem Tisch erschlägt; ein Bettler, mit dem sich Kafka anlegt, weil er ihm kein Wechselgeld herausgeben will; ein Besuch bei einer Prostituierten mit goldenem Herzen –, und den Episoden, die fehlen (etwa die Beziehung zu Dora Diamant und die Sterbewochen in Klosterneuburg) das Gewicht eines Versäumnisses gibt. Der Sprung in die Gegenwart wirkt da wie eine Ausflucht: Weil ihnen zu Kafka selbst nichts Durchschlagendes einfällt, zeigen Holland und Epstein Touristenhorden aus Europa und Übersee, eine stählerne Riesenskulptur mit dem Kopf des Dichters und einen Stapel jener Kafka-Sekundärliteratur, deren Umfang das Werk, von dem sie handelt, um das Millionenfache übertrifft. Von diesem Bücherberg wollte uns „Franz K.“ eigentlich herunterholen. Stattdessen legt er nur ein paar Filmrollen drauf.
Dass es auch anders gegangen wäre, zeigt eine Sequenz, in der der Film Kafkas „In der Strafkolonie“ zu bebildern versucht. Das kann nicht gut gehen, aber es scheitert auf interessante und vielsagende Weise, weil der Schauplatz, auf dem der Exekutions-Apparat der Erzählung sein grausiges Werk verrichtet, direkt aus einem Italowestern stammt. So wird plötzlich etwas klar, über das Kino wie über Kafka. Weitere Filmbiographien des Dichters aus Prag braucht niemand mehr. Nötig wären Filme, die sich einen eigenen Reim auf ihn machen, so wie es Steven Soderbergh vor gut dreißig Jahren gelungen ist. Damals war sein „Kafka“ ein Flop. Inzwischen ist er zu jenem Kultfilm geworden, der Agnieszka Hollands „Franz K.“ niemals werden wird.

vor 15 Stunden
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