Spröde und charmant zugleich, geht das? Wenn ich an Miroslav Holub denke, fällt mir dieses Oxymoron ein. Vor vielleicht dreißig Jahren beim First Poetry Festival in Hongkong war er der Einzige der Dichter, der keine Veranstaltung ausließ, auch nicht die langweiligste und der stets Anzug, weißes Hemd und Krawatte trug, zum milden Amüsement von Hans Magnus Enzensberger, dem er abends in einer Bar in Kowloon spitzbübisch Witze von seinen Anfängen als Mediziner in Prags dunklen Jahren erzählte. Er ließ uns an den jungen Gottfried Benn oder an William Carlos Williams denken, den er oft zitierte: die gleiche Besessenheit beim Ausüben des Doppelberufs von Dichter und Mediziner.
1923 in Pilsen geboren, 1998 in Prag gestorben, hat er als Lyriker neun Gedichtbände, als Immunbiologe mehr als sieben Dutzend wissenschaftlicher Arbeiten veröffentlicht. Sein Hauptwerk behandelt die „Immunologie nackter Mäuse“ (1989). In den Jahren 1966 und 1967 hielt er sich zu Recherchen und Vorträgen in den Vereinigten Staaten auf. Das Gedicht „Atlantikfahrt“ mag auf einer seiner transatlantischen Reisen entstanden sein.
Im unruhigen Spalt zwischen Himmel und Erde
Der Mensch ist umgeben von unendlichen Wassermengen und treibt dahin. Die Fahrt über den Ozean sieht Holub in einem größeren Kontext. Die Route durch die Wellen – „im unruhigen Spalt zwischen Himmel und Erde“ – ist eine gigantische Metapher für das menschliche Dasein. Von der sogenannten „Atlantik-Route“, auf der in den letzten Jahren viele Boote mit Flüchtlingen an Bord kenterten und ihre Insassen den Tod fanden, konnte er allerdings nichts wissen. Der „alttestamentarische Ackermann“ des Gedichts, ein Landwirt, der Furchen zieht, eggt, sät, erntet und nach dem Winter wieder pflügt, sät und erntet, ist für ihn ein Sinnbild des Menschen seit dem Holozän. Einen Bezug zu Johannes von Tepls spätmittelalterlicher Prosadichtung „Der Ackermann aus Böhmen“, was aufgrund des Titels naheläge, gibt es offensichtlich nicht.
Dieser böhmische Landwirt führt in dem Buch ein langes Streitgespräch mit dem Schnitter und wird zum Widersacher des Todes. In dem Gedicht von Miroslav Holub fehlt der personalisierte Tod, er ist eher eine Abwesenheit. Stattdessen breitet sich die Langweiligkeit des Lebens aus, „vom Anfang der Zeit bis zum Ende der Zeit“, von der Geburt bis zum Tod. Und es ist sehr peinlich, dass wir nicht aufbegehren, keine Revolution anzetteln, dass wir ausharren, die Dinge wiederkäuen, in mehreren Etappen, bis das vorverdaute Herz hochgewürgt, nochmals in aller Gemächlichkeit zerkaut und wieder verschluckt wird, wie bei den Säugetieren. Seamus Heaney hat bemerkt, dass die Poesie Holubs „von einer Logik vorangetrieben wird, die sich aus der Reibung von zwei gegenläufigen Wahrheiten speist: Der Untergang der Welt ist beschlossene Sache, deshalb ist alle menschliche Anstrengung vergeblich; der Untergang ist sicher, deshalb ist alle menschliche Anstrengung siegreich.“
Von Gedichtband zu Gedichtband hat Holubs Skepsis – oder ist es resignierter Gleichmut? – zugenommen. In einem seiner zahlreichen poetologischen Essays schreibt er: „Die Poesie ist der letzte (wahrscheinlich auch der erste, hauptsächlich aber der letzte) Versuch der Eingliederung von Zeit und Raum, von Schicksal und Welt in die Ordnung des Denkens. Ein letzter, schwacher, unerfreulicher Versuch.“
Korrelat dieser Illusionslosigkeit ist der Kampf gegen überschwängliche Bilder, gegen Pathos. „No ideas but in things“, wie es William Carlos Williams postulierte. Die Sicht des Mannes am Mikroskop prägt die Schrift seiner Gedichte. Dieses akkurate Vorgehen scheint mir heute eine angemessene Weise, die Welt zu sehen und zu analysieren. Trotzdem ist Holub den Jüngeren, die sich für Poesie interessieren, kaum noch bekannt. Eine Lektion, wie schnell literarischer Ruhm vergehen kann. Denn vor fünfzig Jahren spielte er in derselben Liga wie Seamus Heaney, Lars Gustafsson, Zbigniew Herbert oder Joseph Brodsky. Es lohnt sich sehr, ihn wieder zu entdecken.
Miroslav Holub: „Atlantikfahrt“
Es ist peinlich,
aber noch sind zu viel Wasser,
zu viel Luft,
zu viel Unendlichkeit
gleich hinter der Reling.
In der durchsalzenen Ferne
gefüllt mit Wellen, Wellen, Wellen
(und Wellen und Wellen)
erscheint bei Dämmerung
der alttestamentarische Ackermann mit dem Pflug
und zieht Furche um Furche.
Und die einzige Saat
im unruhigen Spalt zwischen Himmel und Erde
sind dieses Schiff und unser
gemächlich wiederkäuendes Herz,
und so bleibt nichts anderes
als auszuharren vom Anfang der Zeit
bis zum Ende der Zeit,
obwohl das sogar sehr peinlich ist.
Aus dem Tschechischen von Franz Peter Künzel.