Es gab eine Zeit, da wurde Olaf Martens der „Helmut Newton des Ostens“ genannt, aber das hat ihm nie gefallen und bezog sich streng genommen, wie er meint, nur auf ein einziges seiner Bilder – auch wenn Erotik und Mode zu den Hauptfeldern seiner Arbeit zählen. Doch wer ihn jetzt in Leipzig beobachten durfte, zieht ohnedies viel lieber einen Vergleich mit Peter Lindbergh, so wie er da zwischen zehn Schauspielschülerinnen eher altväterlich gemütlich wirkte, barfuß in Sandalen, mit schlabbernder Jeans, den Bauch auch unter dem weiten T-Shirt kaum verborgen – dabei Regisseur über ausgeklügelte Inszenierungen, deren Sinn er am ersten Tag mit den Formeln zu erklären versuchte, dass Schönheit auf Hässlichkeit stoße und Vorstellungen des Paradieses auf Formen der Propaganda.
Requisitenkammer mit allerlei Unheimlichem
Eine Geschichte schälte sich erst allmählich heraus: Mit Koffern in der Hand stürmten die Mädchen aufgekratzt wie in Urlaubslaune das Atrium einer riesigen Villa aus der Zeit um 1900, müssen dann aber begreifen, dass sie in einem Kabinett des Horrors gelandet sind, in dem die luftigen Sommerkleider bald Ganzkörperanzügen aus Silikon weichen und die Gesichter hinter Gasmasken verschwinden werden. Auch sonst wartete die Requisitenkammer am Rand des großen Saals mit einigem Unheimlichen auf, das dutzendfach auf Tischen ausgebreitet lag oder an Kleiderbügeln hing und ahnen ließ, was noch an Überraschungen zu erwarten war.
Wer Olaf Martens’ aktuelle Ausstellung in einer der ehemaligen Lagerhallen der Pittlerwerke in Leipzig besucht, glaubt zu ahnen, wie sich die Aufnahmen später in das Gesamtwerk einfügen werden. Dort stellt die großartige Präsentation „Liebesgrüße und Anarchie“ mit quietschbunten Bildern oder Aufnahmen in eisigem Blau umfassend sein kommerzielles Frühwerk aus den Neunzigerjahren vor (frühe, handabgezogene C-Prints, je nach Größe 1600 oder 2000 Euro, allesamt Unikate).

Schon während des Studiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst hatte sich Olaf Martens vom herrschenden Dogma einer sozial-humanistisch ausgerichteten Fotografie gelöst. Mit dem Fall der Mauer suchte er dann auch in Auftragsarbeiten ironisch zu brechen, was man im eigenen Land sowie der zerfallenden Sowjetunion noch kurz zuvor als technische oder kulturelle Errungenschaften gefeiert hatte. So wurden ihm ebenso ein schrottreifes Atom-U-Boot wie der prunkvolle Yussupow-Palast in St. Petersburg zur Kulisse für Modeinszenierungen, und er ließ seine Mannequins zwischen Arbeitern eines Stahlwerks, Matrosen der russischen Marine oder Wachsfiguren von Stalin und Lenin posieren.
Wo Armut und Dekadenz aufeinanderprallen
Rasch brachten ihm seine kunstvoll überdrehten Interpretationen der russischen Modernisierungsversuche Glasnost und Perestroika Aufträge aller großen deutschen Illustrierten und Magazine, darunter auch das Magazin der F.A.Z., für das Olaf Martens etliche Modestrecken fotografiert hat. Den Glamour raffinierter Abendgarderobe konterkarierte er dann etwa mit den skeptischen Blicken von Schneiderinnen, die sich in weißen Kittelschürzen unter die exklusiv gekleideten Modelle mischen. Oder er zeigt die Schauspielerin Esther Schweins mit Lockenwicklern im Haar, wie er überhaupt auch in seinen Prominentenporträts stets einer Überhöhung entgegenarbeitet.
Die Räume der Galerie Analog Art Photography wirken wie entworfen für Olaf Martens’ Aufnahmen, in denen bisweilen Armut und Dekadenz aufeinandertreffen. Kein weißer Kubus, sondern eine behutsam überarbeitete Lagerhalle. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den Pittlerwerken Werkzeugmaschinen produziert, und zu Zeiten der DDR waren in der nun VEB Drehmaschinenwerk Leipzig genannten Fabrik 15.000 Arbeiter beschäftigt. Nachdem das Unternehmen 1996 insolvent ging, begannen Investoren in den gewaltigen, aus Backsteinen errichteten Fabrikationshallen ein Gegenstück zur im Kunstbetrieb renommierten Leipziger Spinnerei einzurichten.

Aber wegen Auflagen des Denkmalschutzes sowie der Feuerpolizei blieben die Pläne für einen größeren Umbau Utopie, und heute muss man die wenigen Werkstätten, Restaurants und Ausstellungsräume der ersten Stunde auf dem riesigen Gelände suchen. Mittlerweile macht sich Pessimismus breit.
Fotografie in wüsten Räumen
Umso positiver gestimmt schaut Karina Trumm, Geschäftsführerin eines Leipziger Immobilienunternehmens, in die Zukunft. Sie hat im Stadtteil Gohlis die ehemalige Villa des Schokoladenfabrikanten Albert Böhme erworben. Zu DDR-Zeiten eine Tagesklinik für psychiatrische Hilfe, verfiel das Gebäude in den vergangenen Jahrzehnten zusehends. Nun soll es als ein Haus der Kunst auferstehen, wozu Karina Trumm Ateliers für junge Künstler fern des Mainstreams, eine Galerie sowie Veranstaltungsräume darin unterbringen und drum herum einen Skulpturengarten anlegen will. Anderthalb Jahre veranschlagt sie für den Umbau. Aber die Kunst ist bereits eingezogen. Es ist das Atrium dieses Hauses, in dem Olaf Martens die jüngsten Bilder aufgenommen hat. Und sie sollen ebendort auch bald schon ausgestellt werden: in den großen, noch leeren und wüsten Räumen eines Lost Place.

Sie werden anders sein als die Aufnahmen des Frühwerks, sagt Olaf Martens, auch wenn die Inszenierungen vor der Kamera ähnlich ausgesehen haben mögen. Im Sandwich-Verfahren will er jetzt zwanzig und mehr rasch hintereinander fotografierte Aufnahmen jeder der entworfenen Szenen übereinanderlegen. Das sei sein Kommentar zur Fotografie, die stets etwas behaupte, was in Wirklichkeit auch anders sein könne – und zwar mit jedem Wimpernschlag. So werden ihm auf parodistische Weise Motive sozialistischer Propaganda zur ästhetischen Strategie, Wahrheit zu verbreiten.
„Olaf Martens – Liebesgrüße und Anarchie“. Galerie Analog Art Photography, Leipzig, bis Ende Oktober. Für das kommende Frühjahr ist eine weitere Ausstellung in der Villa Böhme in Leipzig angekündigt.