Fast 34 Jahre waren Josef Mengele, dem „Todesengel“ von Auschwitz, noch beschieden nach dem Ende des Nationalsozialismus. Der SS-Lagerarzt, der sich bei seinen Foltermethoden den Anschein eines Wissenschaftlers zu geben versuchte, war von Handlangern nach Südamerika gebracht worden. Er starb 1979 in Brasilien. Diese 34 Jahre sind in jeder Hinsicht eine Obszönität. Hitler endete wenigstens als verkohlte Leiche, verscharrt von den letzten Getreuen im Bunker. Mengele und viele andere hohe Nazis aber lebten weiter, aßen, tranken, arbeiteten, schliefen, träumten, hatten Sex, blieben Nazis – sie waren ein Hohn für jedes Gerechtigkeitsempfinden.
Als der französische Schriftsteller Olivier Guez im Jahr 2017 seinen Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ veröffentlichte, stellte er ihm ein Zitat von Czesław Miłosz voran, das man als an alle ungeschorenen Menschheitsverbrecher gerichtet lesen kann: „Fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.“ Bis zu einem gewissen Grad kann man das Buch tatsächlich als einen Akt der Genugtuung begreifen, schon in der ersten Szene, in der Mengele in Buenos Aires einläuft, unter dem Namen Gregor Bauer, steckt eine Demütigung.
Denn auch wenn es Menschen gab, die für seine Passage sorgten, erfährt er nun keineswegs die erstrangige Behandlung der höchsten NS-Täter, es wartet kein eigenes Boot auf ihn. Er ist nun ein Gesicht in der Menge, und was dieses Gesicht alles erzählen kann, das bringt so richtig erst die Verfilmung des Romans durch Kirill Serebrennikow heraus. Denn hier verschmelzen Josef Mengele, Gregor Bauer (und die vielen anderen Aliasse) und der Schauspieler August Diehl zu einer komplexen Kunstfigur, die man ohne Weiteres als posthumen Racheakt an einem Mann sehen kann, der davon alles verdient hat.
Täter verzweifeln seltener
Um es kurz zu sagen: Josef Mengele wurde in diesen 34 Jahren nicht glücklich. Er hat sie wohl gelebt, war wohl sogar frei von den Anfechtungen des Gewissens (das durch die NS-Ideologie für Herrenmenschen ja abgeschafft worden war), aber es lief insgesamt nicht gut für ihn. Das kündigt sich schon durch einen Satz an, mit dem er empfangen wird, als er einmal (unter falschem Namen naturgemäß) sogar nach Deutschland zurückkehrt, wo seine Familie mit Landmaschinen zum Wirtschaftswunder beisteuert: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ Das Kompliment ist so stark vergiftet, dass Mengele eigentlich nur noch Hand an sich legen dürfte – in einer Umkehrung von Jean Amérys Verzweiflung. Aber Täter verzweifeln viel seltener. Sie schneiden weiter Torten an, herrschen herum, auch wenn der Bereich, in dem die Stimme noch zählt, kleiner wird.

Mengele kehrte nach Südamerika zurück und lebte dort unter dem Druck zunehmenden Wissens um die Verbrechen der Nationalsozialisten. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem hatte auch auf ihn und seinesgleichen Einfluss, aus Argentinien musste er nach Paraguay, später nach Brasilien. Immer abgelegener werden seine Verstecke, verfolgt wird er vor allem von seinem Sohn Rolf, der hartnäckig Fragen stellt, die Serebrennikow schließlich in einer großen, ästhetisch ehrgeizigen, aber auch zutiefst ambivalenten Sequenz beantwortet.
Gute alte KZ-Zeiten
Ein Orchester kleinwüchsiger Künstler tritt auf, eine Sängerin stimmt ein Lied an – der Rückblick auf die Grausamkeiten in Auschwitz ist ein virtuoser Clip, mit dem der exilrussische Regisseur nicht zuletzt einen Topos anspricht, der zuletzt auch in „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer zentral war: Die Nazis hatten im Lager ihre beste Zeit, sie filmten ihre Verbrechen wie Urlaubsbilder, die Selektionen und Peinigungen erschienen ihnen wie eine Revue. Diese paar Minuten, die in das Schwarz-Weiß des Films die Farben eines Musikvideos einbrechen lassen, stellen eine raffinierte Umkehr dar, die nur durch die Täterperspektive gerechtfertigt ist. Bei Steven Spielberg ist in „Schindlers Liste“ Schwarz-Weiß die Ästhetik der Gaskammern, bei Serebrennikow hingegen ist Auschwitz eine paradiesisch-bunte Rückblende, eine berückende Freak-Show, gegen die vor allem August Diehl mit zunehmender Inbrunst anspielt, indem er das Schwarz-Weiß in die Schwärze eines Film Noir stürzt.
Denn er hat eine faustische Aufgabe: Er muss diesem Mengele, durch falsche Identitäten hindurch, alles geben, was dieser zu einer voll entwickelten Figur braucht. Er muss ihm eine Menschwerdung schenken, um ihn dann erst recht der Unmenschlichkeit zu überführen. In der Performance von Diehl zeigt sich erst so richtig das unmögliche Unterfangen von Guez und Serebrennikow: Sie wollen sich an Mengele letztlich gütlich tun. Sie spielen Richter, und Diehl spielt in diesem Dreiecksverhältnis zwischen Akteur, Figur und dessen Tarnexistenzen den Prozess. Rache ist ein „Gericht“, das, einer geläufigen Redensart nach, am besten kalt serviert werden sollte. „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist eine ausführliche Mahlzeit, bei der lange unklar ist, ob der Eingeladene noch isst oder ob er schon würgt an der höheren Gerechtigkeit, die ihm hier durch einen Film widerfährt.

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