Es gibt Regisseure, die haben ein Auge für gute Kampfszenen. Soi Cheang hat ein Ohr für sie. Bevor in „City of Darkness“ Gangster in den engen Gängen von Kowloon aufeinander losgehen, lassen sie ihre Messer durch die Luft sirren – ein brutales Geräusch, kalt wie Stahl, grell wie Blitze in einer Sommernacht.
Cheang ist berühmt für solche Sound-Effekte, die Kinobesucher in Anspannung versetzen, noch bevor die Handlung auf der Leinwand dem Adrenalinspiegel des Publikums entspricht. Im Thriller „New Blood“ (2002) etwa tauchte ein rachsüchtiger Geist bei drei jungen Menschen auf, die Blut gespendet hatten – die Tonspur dazu ist so verstörend (stellen Sie sich die piksenden Streicher aus der Duschszene in „Psycho“ elektronisch verfeinert vor, wie sie plötzlich auf dunklen Krankenhausfluren über einen hereinbrechen), dass der Film für manche Hongkonger Kinobetreiber als „zu gruselig“ galt.
Aber diese Zuschreibung interessiert Cheang wenig, er spielt seit mehr als zwei Jahrzehnten virtuos auf der Klaviatur des Genrekinos. Im Actionfilm „Dog bite Dog“ (2006) versucht ein Auftragskiller der Polizei und der Korruption Hongkongs zu entkommen, im Thriller „Accident“ (2009) lassen Gangster ihre Morde wie Unfälle aussehen, und im Fantasy-Action-Epos „The Monkey King“ (2014) schickt der Regisseur Kung-Fu-Star Donnie Yen als sagenhaften Affenkönig ins China der Ming-Dynastie. Nach dem langen Ausflug in die Digitalwelten des CGI-Kinos – „The Monkey King“ bekam drei Teile – ist Cheang nun zurück beim Handwerk und verfilmt mit „City of Darkness“ den Roman von Yu-Yi sowie die gleichnamige Comicadaption des auf Martial-Arts-Geschichten spezialisierten Andy Seto.
Externer Inhalt von Youtube
Um externe Inhalte anzuzeigen, ist Ihre widerrufliche Zustimmung nötig. Dabei können personenbezogene Daten von Drittplattformen (ggf. USA) verarbeitet werden. Weitere Informationen .
Die Story ist schnell erzählt: Hongkong zieht Mitte der Achtzigerjahre so manchen Flüchtling vom chinesischen Festland an, der sich auf der von Großbritannien verwalteten Insel ein Leben in Luxus erträumt. „Die Zahl der Flüchtlinge hat die 60.000 überschritten, sie fluten die Stadt“, souffliert ein Nachrichtensprecher, während Chan Lok-kwan die neonbeleuchteten Straßen durchstreift. Der junge Mann lebt illegal in der Stadt, hält sich mit Preiskämpfen über Wasser und spart Geld, um einen offiziellen Pass auf dem Schwarzmarkt kaufen zu können. Natürlich gerät er dabei an den Falschen. Martial-Arts-Filmlegende und Jackie-Chan-Kumpel Sammo Hung spielt den fiesen Gangsterboss Mr. Big, der den jungen Mann übers Ohr hauen will. In seiner Verzweiflung schnappt sich Chan Lok-kwan eine Drogenlieferung von Mr. Big und flieht damit in Kowloons „Ummauerte Stadt“.
Originalgetreu die Schauplätze nachgebaut
Wie Wespenwaben wuchsen auf diesem Stadtteil der Hongkonger Halbinsel illegale Gebäude in den Himmel. Auf etwa 2,7 Hektar lebten 33.000 Menschen. Die Enge lässt Regisseur Soi Cheang wiederauferstehen. „Ich bin in den Achtzigerjahren in Hong Kong aufgewachsen, die Schauplätze sollten möglichst originalgetreu sein“, erzählte Cheang im Interview mit dieser Zeitung in Cannes, wo sein Film Ende Mai in einer Mitternachtsvorstellung Premiere feierte. „Mir ging es darum, sowohl die Aura der Menschlichkeit, der Wärme und Gemeinschaft einzufangen als auch den Gestank, der in der Ummauerten Stadt herrschte.“ Heute ist der Stadtteil längst abgerissen. Cheangs Setdesigner besuchten Abbruchgebäude, entfernten Tür- und Fensterrahmen, um die dunklen Apartments detailgetreu nachzubilden.
Die Enge des Raums sollte sich als Vorteil erweisen. „Damit konnte man für die Actionsequenzen spielen. Die schmalen Wege setzten der Kreativität des Kampfchoreographen Kenji Tanigaki keine Grenze, vielmehr begann er damit zu spielen“, so der Regisseur. Statt komplizierte Schrittfolgen auf großem Raum zu inszenieren, wie es die chinesischen Wuxia-Historien-Kampffilme taten, arbeitet man hier mit der vertikalen Architektur des Großstadtmolochs. Kämpfer springen in Schächte, hangeln sich an losen Kabelsträngen auf die nächste Etage, nutzen Baulöcher, um die Gegner gegen Zementbrocken zu schleudern – all das in Handarbeit, vor Ort, ohne Greenscreen. „Wenn jemand nach einem computergenerierten Monster schlägt, ist da kein echter Widerstand. Echte Martial-Arts-Szenen leben von der Reaktion der Schauspieler“, sagt Cheang. Für ihn seien die Emotionen das Wichtige an einer Kampfszene. „Die bringen das Drama auf die Leinwand. Jemanden zu sehen, der für etwas kämpfen will, das macht die Stärke solcher Szenen aus.“
„John Woo und Johnnie To machen aus Action Musik“
Dementsprechend neigen die Prügeleien hier weniger zu den tänzelnden Choreographien seiner Vorbilder: „John Woo und Johnnie To haben einen fast schon lyrischen Ansatz dabei, die machen aus Action Musik.“ Den Einfluss der beiden Meister des Hongkong-Kinos der Achtzigerjahre sieht man heute vor allem in amerikanischen Actionfilmen, die unter der Regie der ehemaligen Stuntmen Chad Stahelski („John Wick“) und David Leitch („Atomic Blonde“, „The Fall Guy“) entstanden. Sie übernahmen den Ansatz strukturierter Szenenabfolgen. Keine wackelige Kamera vermittelt hier wildes Getümmel. Jeder Schritt, Tritt und Hieb ist durchdacht.
Cheang setzt dem einen Rückgriff auf die andere Seite des Actionkinos aus Hongkong entgegen: rauer, härter und politischer. Ganz nebenbei baut er lässig eine kleine Verbeugung vor den Filmhelden seiner Jugend ein: Unser Held trägt über weite Strecken knallgelbe Jogginghosen, wie Bruce Lee sie in seinen ikonischen Kämpfen anhatte. Irgendwann flüchtet Chan Lok-kwan darin in einen Doppeldeckerbus. Die Gangster erklimmen das Gefährt und nehmen Haltestangen und Sitze in der folgenden Kabbelei auseinander, der Held fliegt durch das Busfenster und klopft gegen die Fahrerscheibe. Ähnlich tat es Jackie Chan 1985 in „Police Story“, jenem Actionfilm, der ihm zum Durchbruch verhalf.
Dass Cheangs Filme auch immer einen kleinen Kommentar aufs Zeitgeschichtliche abgeben, prägt auch „City of Darkness“. Wenn die Kamera über Kowloons illegale Hochhausschluchten fliegt, hält sie den Alltag der Bewohner fest. Flugzeuge ziehen wie Wale über den schmalen Streifen Himmel. Kinder helfen in den Geschäften ihrer Eltern aus. Der Held findet in Garküchen hilfsbereite Mitmenschen, die ihm Arbeit und Essen geben – wenn alle anderen gesellschaftlichen Regeln versagen, hilft Zusammenhalt. Man braucht ja etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt.