EU-Kommission: Eurostat muss alle Nachrichtenagenturen gleich behandeln

vor 11 Stunden 1

Was Hans Magnus Enzensberger meinte, als er vom „sanften Monster Brüssel“ sprach, zeigt dieser Fall: Das Statistische Amt der Europäischen Union, Eurostat, verschickt von September an keine Presseinformationen mehr vorab mit Sperrfrist. Der Service für Journalisten, sich mit einer Materie zu befassen, um zu dieser zum vorgegebenen Zeitpunkt ausführlich pu­blizieren zu können, fällt aus. Warum?

Das erklärt die „Deutsche Textservice Nachrichtenagentur“ (dts) mit Sitz in Halle (Saale). Die kleine Agentur, die nach eigenen Angaben rund 80 Kunden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein beliefert, berichtet von einer Geschichte, die Enzensbergers Diktum entspricht. Sie handelt von der Selbstherrlichkeit einer Behörde, deren Aufgabe es eigentlich ist, im Dienst der EU-Bürger zu handeln.

„Aus unserer Sicht grotesk“

Es geht es um den monatlichen Versand der „Euroindikatoren“. Diese Indikatoren liefern wirtschaftliche Informationen (Inflationsrate, Bruttoinlandsprodukt) über das Euro-Währungsgebiet, die EU und einzelne Mitgliedstaaten. Agenturen wie Reuters oder Bloomberg seien bei diesen Informationen bevorzugt worden, sagt die dts. Sie hätten bestimmte Meldungen bis zu eine Stunde früher bekommen als andere. Zudem habe sich Eurostat geweigert, die Agentur dts in ihren „Embargo-Verteiler“ aufzunehmen. Bei der EU, erklärt der dts-Geschäftsführer Michael Höfele im Gespräch mit der F.A.Z., gebe es eine sogenannte „interinstitutionelle Akkreditierung“. Diese sei dafür gedacht, Journalisten, die aus Brüssel berichten, physischen Zugang zu den EU-Gebäuden zu verschaffen. Eine Voraussetzung für diese Akkreditierung sei, dass man seinen Wohnsitz in Belgien hat. Eurostat wiederum habe bestimmt, dass man nur auf den bevorzugten Sperrfrist-Verteiler kommt, wenn man über die „interinstitutionelle Akkreditierung“ verfügt, also über eine Dauerakkreditierung. „Dies ist aus unserer Sicht grotesk gewesen, weil Eurostat seinen Sitz in Luxemburg hat und nicht in Belgien“, sagt Höfele.

Das habe die damalige EU-Ombudsfrau, Emily O’Reilly, auch so gesehen, erzählt Höfele. Dts stieß 2023 erstmals ein Verfahren bei ihr an. Die irische Journalistin O’Reilly war von 2013 bis Ende 2024 die Europäische Bürgerbeauftragte. In einem siebenseitigen Schreiben (Fall 477/2023/EIS) vom 11. November 2024, das der F.A.Z. vorliegt, gab sie der dts Recht. Zwar stimme O’Reilly zu, dass gründliche Vorabkontrollen notwendig seien, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Systems von Sperrfristen zu gewährleisten. Sie sei jedoch der Ansicht, dass es keine stichhaltige Begründung dafür gebe, die EU-Medienakkreditierung und die damit verbundenen Anforderungen mit dem Zugang zu mit Sperrfristen versehenem Material zu verknüpfen. „Die geltenden Vorschriften sind nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar und stellen einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit (der Europäischen Kommission, Anm. d. Red.) dar“, heißt es in dem Schreiben. Die Europäische Ombudsstelle bestätigte der F.A.Z. auf Anfrage diese Kritik an der Praxis von Eurostat.

Machtwort von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Obwohl die EU-Ombudsfrau O’Reilly einen „Missstand“ feststellte, hielt Eurostat an seiner Praxis fest. Das habe nach einer „gewissen Verzögerungstaktik“ ausgesehen, sagt dts-Geschäftsführer Höfele. Im April dieses Jahres drohte die dts nach Verstreichen einer Frist von sechs Monaten deshalb mit einem Gerichtsverfahren. Erst dann bewegte sich die EU-Kommission und schloss sich der Entscheidung der Ombudsfrau O’Reilly an. Mit Schreiben vom 21. Mai, das der F.A.Z. vorliegt, verfügte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass alle Nachrichtenagenturen mit Sitz in der EU künftig gleichbehandelt werden müssen, unabhängig von ihren Standorten in den jeweiligen Mitgliedsländern.

Daraufhin sei Eurostat offenbar die Lust auf Sperrfrist-Mitteilungen vergangen, schreibt die dts. Was die Generaldirektorin von Eurostat, Mariana Kotzeva, antreibe, verstehe er nicht, sagt dts-Geschäftsführer Höfele. Sie habe bis zur letzten Sekunde alles dafür getan, den alteingesessenen Nachrichtenagenturen einen Vorteil zu verschaffen. Zudem findet er die Entscheidung, den festgestellten Missstand erst zum 1. September zu beheben, „merkwürdig“: „Im Juni, Juli und August sollen die privilegierten Nachrichtenagenturen also offenbar noch mal privilegiert werden. Warum?“, fragt Höfele. „Wir verstehen es nicht und haben Frau Kotzeva aufgefordert, den aus unserer Sicht rechtswidrigen Vorabversand sofort einzustellen.“ Eine Anfrage der F.A.Z. dazu ließ Eurostat unbeantwortet.

Die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly zog am Ende ihrer Amtszeit zu ihrem Wirken eine ernüchternde Bilanz: Von der von ihr vom ersten Tag an geforderten Transparenz den Bürgern gegenüber seien die EU-Kommission und die EU-Behörden weit entfernt.

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