EKD: Untersuchung kritisiert Rolle von Annette Kurschus im Siegener Missbrauchsfall

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Über Jahre hinweg soll ein ehemaliger Kirchenmusiker im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein teils minderjährige Schüler sexuell missbraucht haben. Nach einer unabhängigen Untersuchung soll die Evangelische Landeskirche von Westfalen bereits in den Neunzigerjahren von diesen und weiteren Missbrauchsfällen im Süden Nordrhein-Westfalens gewusst haben. Die Ergebnisse wurden am Dienstag in Siegen im Auftrag der Landeskirche vorgestellt. Eine Aufarbeitung und Meldung der Vorfälle sei aber nicht erfolgt. Zu diesem Ergebnis kommt die Unternehmensberatung Deloitte bei der Untersuchung von Vorwürfen gegen einen ehemaligen Kirchenmusiker.

Bereits vor anderthalb Jahren war die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, wegen der Affäre zurückgetreten. Die Untersuchung legt nahe, dass auch sie frühzeitig von den Vorgängen gewusst haben könnte. Deloitte regte eine juristische Überprüfung des Sachverhalts an.

Kritischer Blick auf Präses Kurschus und westfälische Kirchenleitung

So sei Präses Kurschus im Oktober 2022 von einer Gemeindepfarrerin über potenzielle Vorwürfe der sexualisierten Gewalt informiert worden und habe die Hinweise innerhalb der Kirche weitergegeben. »Die Kirchenleitung der EKvW wurde in Gänze im April 2023 informiert.« Es sei zu einem internen Konflikt im Landeskirchenamt und »gegenseitigem Vertrauensverlust auf der Führungsebene der EKvW« gekommen.

»Auf Basis externer Beratung sowie behördlicher Vorgaben haben sich die EKvW und die damalige Präses für eine passive Kommunikationsstrategie entschieden.« Es habe einen Mangel an Transparenz gegeben, der zu hohem medialem Druck und fehlendem Rückhalt innerhalb der kirchlichen Gremien geführt habe – und damit letztlich zum Rücktritt von Kurschus. »In Bezug auf diese Frage sowie auf weitere fragliche Zusammenhänge wird eine juristische Überprüfung möglichen Fehlverhaltens gegen beteiligte Personen angeregt«, rät der Sonderbericht.

Vorwürfe reichen bis in die Achtzigerjahre

Die Vorwürfe gegen den Kirchenmusiker waren über einen Bericht der »Siegener Zeitung« öffentlich bekannt geworden. Laut Deloitte-Bericht haben sieben Betroffene gegen ihn Vorwürfe erhoben, bezogen auf den Zeitraum von den Achtzigerjahren bis 2022. Alle seien Orgelschüler gewesen. Der Befragte habe sexuelle Kontakte zu zwei Betroffenen eingeräumt. Ob sie zu dem Zeitpunkt noch minderjährig waren, ließ sich laut Untersuchung nicht klären.

Der ehemalige Mitarbeiter habe weitere Annäherungen oder Handlungen abgestritten. Aber: »Dem stehen durch die Untersuchung gewonnene Ergebnisse entgegen«, berichtete Deloitte.

Schon in den Neunzigerjahren hätten die Dienstvorgesetzten des Kirchenmusikers Kenntnis von den Vorwürfen erhalten, es habe aber keine formelle Untersuchung gegeben, so ist es in dem unabhängigen Bericht zu lesen. Kurschus sei in den Neunzigerjahren Pfarrerin im Entsendungsdienst in Siegen in einer Nachbargemeinde – also in einer Art Probedienst tätig – und mit der Ehefrau des Beschuldigten eng befreundet gewesen.

Dass sich Kurschus und der damalige Mitarbeiter gut kannten, war schon zuvor bekannt. In dem Zeitungsbericht hatten mehrere Männer den Vorwurf erhoben, Kurschus habe von den Missbrauchsvorwürfen gewusst, aber nicht adäquat reagiert. Kurschus hatte den Rücktritt von ihren Spitzenämtern im November 2023 mit einem öffentlichen Vertrauensverlust begründet, zugleich aber betont, sie sei in der Sache mit sich im Reinen: »Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.«

Kirche von Westfalen räumt Versagen ein

Dass der Beschuldigte über Jahrzehnte hinweg Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung seiner anvertrauten Schüler verletzen konnte, stelle ein Versagen der evangelischen Kirche dar, räumten die leitenden Geistlichen der Landeskirche EKvW und des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein ein. »Die Evangelische Kirche von Westfalen benennt und bekennt dieses Versagen gegenüber den Betroffenen und der Öffentlichkeit«, sagte der Theologische Vizepräsident der EKvW, Ulf Schlüter.

Die westfälische Kirche werde aus dem Bericht Konsequenzen ziehen, »mögliche Pflichtverstöße Beteiligter zu prüfen und Verfahren zur Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt weiter verändern und verbessern.«

Schlüter wies darauf hin, dass der Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein im März 2023 ein Interventionsteam eingerichtet, Betretungsverbote gegen den Mann ausgesprochen sowie Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Siegen gestellt habe. Es habe Gespräche mit den Betroffenen gegeben, das Interventionsteam arbeitet bis heute an der Aufklärung der Sachverhalte. Allerdings fehlten für ein übergreifendes, gemeinsames Handeln der beteiligten Ebenen der EKvW Standards und verlässliche Verfahren. Kommunikationsprozesse seien defizitär und intransparent gewesen.

Die Staatsanwaltschaft Siegen hatte das Verfahren gegen den Kirchenmitarbeiter vor gut einem Jahr eingestellt. Aus strafrechtlicher Sicht sei dem Mann kein sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen vorzuwerfen, hatte die Ermittlungsbehörde mitgeteilt. In den geprüften Verdachtsfällen sei entweder kein Straftatbestand erkennbar oder die Fälle seien verjährt.

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