Duisburg-Meiderich, 1959: Sonntags, in den lästig feinen Kleidern

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 »Jetzt stellt euch mal da hin«

Heiner Hoffmann (Mitte), Bruder Karl-Reinhold, Schwester Beate in Duisburg-Meiderich, 1959: »Jetzt stellt euch mal da hin«

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Privat

Ein Bild und seine Geschichte Sonntags, in den lästig feinen Kleidern

Man musste anständig aussehen, auch wenn das Geld knapp war. SPIEGEL-Leser Heiner Hoffmann, damals vier, zeigte die Zunge.

Aufgezeichnet von Barbara Supp

08.10.2024, 14.16 Uhr aus DER SPIEGEL 41/2024

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Es war ein Sonntag, der 30. August 1959, wie mein Vater mit Kugelschreiber auf dem Schriftfeld des Agfacolor-Diaglasrahmens notierte. Er hatte den Krieg überlebt und arbeitete als Buchhalter in einer Duisburg-Ruhrorter Reederei, das Geld war knapp, die Zweizimmerwohnung in Duisburg-Meiderich  eng, aber meiner Mutter war es immer wichtig, dass wir »anständig« gekleidet waren und niemals vernachlässigt aus dem Haus gingen.

Foto: Eyad Baba / AFP; Mohamed Azakir / REUTERS; Amr Abdallah Dalsh / REUTERS; Abir Sultan / EPA

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Sogar Bügelfalten sind zu sehen

Hier aber scheint es fast so, als kämen wir von einer Kindermodenschau: weiße, zugeknöpfte Hemden, mein Bruder Karl-Reinhold in der dunklen, ich in der hellen Jacke, sogar Bügelfalten an den kurzen Hosen sind noch zu sehen. Kleid und Jäckchen meiner Schwester Beate stehen unserer Garderobe in nichts nach. An ihrem ausgeleierten Strumpf allerdings lässt sich ablesen, dass das Geld doch nicht so ganz reichte. Dass mein Bruder eine Halskette mit Anhänger trug, haben wir jetzt erst entdeckt. Das kann nichts Teures gewesen sein, vielleicht stammte sie aus einem Automaten. Ich war am Tag der Aufnahme genau vier Jahre und drei Monate alt. Ein inszeniertes Bild eigentlich, »jetzt stellt euch mal da hin«, woraus ein Schnappschuss mit ungewollter Komik entstand.

Wir wurden häufig fotografiert, vielleicht war das ein stiller Protest von mir. Es war auch immer lästig, sonntags so gut angezogen zu sein beim Spazierengehen, auf Bäume klettern durfte man da natürlich nicht. Zu meinen Füßen sieht man einen Lebensmittelkorb, wahrscheinlich waren wir auf dem Weg zum Meidericher Stadtpark. Wenn wir vom Park gekommen wären, hätte man unserer Kleidung vielleicht doch etwas angesehen.

Die gefürchteten Dia-Abende gab es auch

Der Reiz der Aufnahme wird durch die Interaktion mit dem Blumenmann auf dem Plakat, der für die Bundesgartenschau wirbt, noch gesteigert. Heute erinnert er mich an Lukas, den Lokomotivführer, in Michael Endes Kinderbuch »Jim Knopf«. Damals allerdings war das Buch noch gar nicht erschienen, es kam erst ein Jahr später heraus. Jedenfalls fotografierte mein Vater viel und leidenschaftlich, und die gefürchteten Dia-Abende gab es natürlich auch. Keine Urlaubsbilder aus Italien, das konnten wir uns nicht leisten. Aber von den Reisen zum Beispiel, die er mit uns zwei Jungen unternahm: mit Frachtschiffen rheinaufwärts nach Koblenz oder rheinabwärts nach Rotterdam, dann wandernd von Jugendherberge zu Jugendherberge. An Ausschweifungen dieser Art nahm meine Mutter nicht teil. Sie hatte einen Haushalt zu führen und eine Tochter zu versorgen. In den Sommerferien gab es aber schon eine Reise der ganzen Familie, mal nach Berchtesgaden, mal ins Sauerland.

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