Doris Dörrie übers Wohnen: Mit Hingabe zugemüllt

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Beim Wohnungstest der „Zeit“ schneidet sie ganz schlecht ab. Dass sie „keinerlei Sinn fürs Einrichten“ habe, wird Doris Dörrie bescheinigt, wie sie jetzt in ihrem essayistischen Bericht übers „Wohnen“ erzählt. Wenn ein neues Sofa gebraucht werde, heißt es in der Wohntypologie der „Zeit“ weiter, sei sie der Typ, der sich beim Sperrmüll auf der Straße umschaue: „Sie verstehen nicht, wie man sich so viele Gedanken um Raumgestaltung und Farbauswahl machen kann. Selten sind Sie kreativ.“

Selten lag die KI eines Wohnomats wohl mehr daneben als hier. Denn die 1955 in Hannover geborene Filmregisseurin ist nicht nur kreativ. Sie ist auch eine Fachfrau mit jahrzehntelanger Expertise für Raumgestaltung und Farbauswahl. Wie man hier erfährt, hat Doris Dörrie mehr Ahnung von Häusern und Einrichtungen und was diese über ihre Bewohner erzählen – ob als Inszenierung oder freiwillig –, als manch ein hoch bezahlter Innenarchitekt.

Ein Palast wie ein Gefängnis

Das hat mit ihrem Beruf zu tun. Denn vor Drehbeginn wandert die Regisseurin auf Motivsuche durch endlos viele fremde Wohnungen und Häuser, um für ihre Figuren die passende Umgebung zu finden. Penibel untersucht sie, welche Möbel und Räume das Verhalten und Empfinden ihrer Protagonisten beeinflussen können. Denn sie weiß: „Ein Palast kann sich wie ein Gefängnis anfühlen und eine winzige Wohnung wie ein Palast.“ Wer im Film davon erzählen will, muss es zuvor durchdrungen haben. Dank der lebendigen Lesung der Autorin sieht man es direkt vor Augen, wie Dörrie mit ihren Szenographen die Wohnungen vor den Dreharbeiten erst einrichtet, um sie dann „kalkuliert zuzumüllen“, um mit zerbröselten Chips und zerknautschen Sofas genau das richtige Maß an Unordnung herzustellen, um den Film zum Sprechen zu bringen.

Doch so sehr Dörrie sich als Regisseurin zur Wohnungsspezialistin entwickelt hat, so sehr lehnt sie das Konzept des „Schöner Wohnen“ als Privatperson ab. Aus dieser Spannung lebt ihre hörenswerte und aufschlussreiche Recherche über das „Wohnen“, die als Buch in der Hanser-Reihe mit Langessays zu lebensnahen Themen erschienen ist, neben Elke Heidenreichs „Altern“ sowie Heike Geißlers „Arbeiten“. Privat war Dörrie lange Zeit Wohnnomadin, wie sie hier erzählt. Nach ihrem Auszug aus dem elterlichen Nest in Hannover verbrachte sie viele Jahre in Wohngemeinschaften. Erst als ihr Film „Männer“, in dem sich die Frau eines Yuppies in einen Hippie verliebt, 1985 zum Erfolg führte und Hollywood in der WG anrief, zog Dörrie in ihre erste eigene Wohnung in Schwabing, da war sie schon dreißig.

Wie kann es sein, dass gerade Luxusimmobilien so leer und leblos wirkenWie kann es sein, dass gerade Luxusimmobilien so leer und leblos wirkenAP

Was die teilnehmende Beobachtung unserer Wohngewohnheiten so interessant macht, ist die Verbindung von Zeit und Raum. So geht Dörrie einerseits bis zurück in die Jahre des Zweiten Weltkriegs, als ihre Eltern, damals noch Kinder, beide beim großen Brand in Hannover 1944 ausgebombt wurden. Als Erwachsene lässt sich die Regisseurin von ihrer Mutter den Keller des zerstörten Hauses zeigen, in dem die Familie damals über sehr lange Zeit zu fünft ausharrte. Noch die hochbetagte Mutter konnte sich an jedes Detail des Fachwerkhauses erinnern, das ihr Urgroßvater 1840 erbaut hatte. Dörrie glaubt, dass die Erfahrungen im Keller die Vorstellung ihrer Mutter von Leben, Wohnen und Familie maßgeblich geprägt haben. In einer eigenen Wohnung leben zu können, wurde für sie zum „Synonym für Frieden und Freiheit“.

Auch die Tochter kann sich noch genau an die erste kleine Wohnung der Eltern erinnern, an die weiße Raufasertapete mit den schwarzen Händen neben dem Kinderbett. Dass wir alle den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, für immer in uns tragen, davon ist Dörrie überzeugt. Deshalb hortete ihr Großvater nach dem Krieg Überbleibsel aus dem zerstörten Haus auf seinem Schreibtisch, kaputte Teller, ein kleines Pferd mit Reiter, ein Briefbeschwerer aus Bronze. Und deshalb legten ihre Eltern nie viel Wert auf teure Möbel und elegante Interieurs. Dem dem Krieg entronnenen Paar, das schon einmal alles verloren hatte, war Besitz nichts, an das man sein Herz hängen sollte. Dafür waren immaterielle Werte umso wichtiger: etwa Reisen oder die Literatur. Alle in der Familie fanden sich abends mit einem Buch unterm Arm im Wohnzimmer ein.

Hausbesichtigungen als Zeitvertreib

Doris Dörrie zufolge prägen uns die Behausungen unserer Kindheit so sehr, dass wir sie entweder imitieren oder dagegen revoltieren. Sie selbst wuchs in einer bürgerlichen Familie mit drei Schwestern auf, in der die Rollen klar verteilt waren. Der viel arbeitende Vater war vor allem abwesend, während die Mutter als Hausfrau kaum je die Wohnung verließ und auch kein eigenes Zimmer besaß, wie Virginia Woolf es in ihrem Essay „A Room Of One’s Own“ forderte. Dabei verstand sich die Arztgattin durchaus als moderne Frau. In der konservativen Nachkriegszeit galt es als Privileg, nicht arbeiten zu müssen. Zugleich haderte sie ihr Leben lang damit, ihr Medizinstudium aufgegeben zu haben.

Doris Dörrie weiß viel über die Gewohnheiten des WohnensDoris Dörrie weiß viel über die Gewohnheiten des Wohnensdpa

Während sich die Schwestern von Doris Dörrie schon früh für Möbel und Design interessierten und schöne, aufgeräumte Wohnungen haben, war sie selbst „nie der Wohntyp“, wie die Autorin gesteht. Gleichzeitig ist ihr Interesse an der Art, wie Menschen wohnen, derart ausgeprägt, dass sie sich als junge Frau in Hollywood ihre Einsamkeit einst damit vertrieb, an Hausbesichtigungen teilzunehmen. Es gehört zu den witzigsten Kapiteln des Hörbuchs, wie die junge Frau aus Europa als vermeintliche Interessentin die hyperschlanken Maklerinnen mit ihren Designerhandtäschchen über die umliegenden Kindergärten, Schulen und Märkte befragt und sich dabei als Spezialistin für Geister zu erkennen gibt.

Die zumeist monströs hässlichen Hollywood-Villen mit Pool und riesigen Gärten sind Nachbildungen architektonischer Vorbilder aus Versailles, England oder den Alpen. Dörries Besuche sind dabei nicht dem Wohnneid geschuldet, das darf man der Autorin getrost glauben, sondern der Neugier: Wie sehen wohl die Habitate von Multimillionären aus, in die man als Normalsterblicher sonst nicht hineinkommt, und vor allem: Warum wirken sie trotz der vollgestopften Interieurs so leer und leblos auf die deutsche Besucherin? Umso mehr Inspiration wird diese Jahre später in Asien finden, als Reisen sie wiederholt dorthin führen.

Ihre Begeisterung findet nicht nur in vielen Filmen, die in Japan angesiedelt sind, Niederschlag – zuletzt „Kirschblüten & Dämonen“ und davor „Grüße aus Fukushima“. Ihrem Vortrag übers „Wohnen“ merkt man an vielen Stellen an, wie tief Dörrie die fernöstliche Lebenskultur durchdrungen hat. Deshalb enden ihre Kapitel oft mit dem japanischen „Tadaima“, was so viel wie „Ich bin zu Hause“ bedeutet. Für Doris Dörrie ist Japan zweifellos ihr zweites Zuhause. Und in ihrem ersten, in Bayern, hat sie sich mit sechzig Jahren ihre erste Einbauküche gegönnt. Und sie hat Freude daran.

Doris Dörrie: „Wohnen“. Ungekürzte Autorinnenlesung. Verlag Tacheles, Bochum 2025. 221 Min., Digital only, 11,99 €.

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