Favoriten wackeln, Verfolger machen Ernst: Die Gruppenphase der EURO 2025 ist vorbei - und sie hat mehr geliefert als nur acht Viertelfinalisten. In Teil zwei der kicker-Kolumne analysiert die ehemalige ÖFB-Kapitänin Carina Wenninger die Vorrunde des Turniers.

Carina Wenninger schreibt während der EURO 2025 für den kicker. Carina Wenninger
Dass sowohl England als auch Deutschland - die beiden Finalistinnen von 2022 - diesmal nur Gruppenzweite wurden, hätte vor wenigen Wochen kaum jemand erwartet. England startete mit einer 1:2-Niederlage gegen Frankreich, Deutschland ging beim 1:4 gegen Schweden unter - es war die höchste EM-Niederlage der deutschen Geschichte. Und doch stehen beide Teams im Viertelfinale. England hat sich stabilisiert, gegen die Niederlande und Wales insgesamt zehn Tore erzielt und unter Sarina Wiegman wieder zu jener Dominanz zurückgefunden, mit der sie 2022 Europameister wurden. Dass Wiegman inzwischen mehr EM-Siege eingefahren hat als jede andere Trainerin vor ihr, ist kein Zufall - sie weiß, wie man ein Team durch ein Turnier führt.
Aber die Konkurrenz schläft nicht - im Gegenteil. Spanien hat eine Gruppenphase gespielt, wie man sie sich aus Sicht einer Weltmeistermannschaft nur wünschen kann: drei Siege, vierzehn Tore, viel Tempo und Spielfreude. Mit Esther Gonzalez als treffsicherer Neuner und Alexia Putellas als Spielmacherin, die neben ihren drei Toren auch vier Vorlagen geliefert hat, ist dieses Team längst nicht nur Favorit - es ist aktuell das Maß aller Dinge.
Skandinavische Gegensätze, schweizer Gänsehaut
Frankreich hat sich in der schwierigsten Gruppe des Turniers durchgesetzt - und trifft nun im Viertelfinale auf Deutschland. Ein echtes K.-o.-Spiel der Schwergewichte. Schweden ließ beim 4:1 gegen Deutschland ebenfalls keine Zweifel an den eigenen Ambitionen. Besonders beeindruckend: nur ein Gegentor in drei Spielen. Norwegen hingegen gewann zwar alle Gruppenspiele, überzeugte dabei aber kaum. Drei knappe Siege gegen die Schweiz, Finnland und Island werfen Fragen auf - besonders defensiv.
Überrascht hat mich besonders die Schweiz. Zum ersten Mal im Viertelfinale einer EM, getragen von einem leidenschaftlichen Publikum, das die Städte Basel, Bern und Genf in ein rotes Fahnenmeer verwandelt hat. Geraldine Reuteler ist die zentrale Figur im Spiel der Gastgeberinnen: Sie hat die meisten Chancen kreiert, die meisten Schüsse abgegeben und die meisten Ballführungen im Turnier gezeigt. Und dann war da noch dieser späte Ausgleich von Riola Xhemaili gegen Finnland, der das Viertelfinalticket sicherte. Die Schweiz mag gegen Spanien der Underdog sein - aber sie hat nichts mehr zu verlieren.
Neue Bestmarken auf würdiger Bühne
Auch Italien darf man nicht abschreiben. Sie sind nicht laut, nicht spektakulär, aber klüger als noch vor zwei, drei Turnieren. Zwar ging das Duell gegen Spanien mit 1:3 verloren, aber Italien zeigte dabei, dass es mitspielen kann - taktisch diszipliniert und deutlich reifer als in der Vergangenheit. Im Viertelfinale wartet nun Norwegen - ein Spiel, das auf dem Papier ausgeglichen wirkt, aber von der Tagesform und Nervenstärke entschieden werden dürfte.
Und dann ist da noch der Rahmen, in dem dieses Turnier stattfindet. Die Stadien sind kleiner als bei der EM 2022 in England, aber sie sind voll. Die Stimmung ist fantastisch, die Fanmärsche emotional, die Kulisse atemberaubend. Das meistbesuchte Spiel - Deutschland gegen Dänemark - zog über 34.000 Zuschauer an, obwohl die Schweiz als Gastgeber nicht beteiligt war. Das zeigt: Der Frauenfußball ist endgültig in der Breite angekommen.
Auch sportlich wurde geliefert. 89 Tore wurden erzielt - ein neuer EM-Rekord. Zehn davon aus der Distanz - ein Beweis für das gestiegene technische Niveau. Gleichzeitig gab es aber auch vier Platzverweise - doppelt so viele wie 2022. Die Intensität steigt, der Druck wächst. In der K.-o.-Phase wird das kaum weniger werden.
Jetzt beginnt die heiße Phase. England trifft auf Schweden, Spanien auf die Schweiz, Frankreich auf Deutschland - und Italien misst sich mit Norwegen. Große Namen, offene Duelle - und die eine Frage, die alle verbindet: Wer bleibt stabil, wenn es wirklich zählt?
Diese EM schreibt nicht nur Geschichte - sie verändert den Blick auf den europäischen Frauenfußball. Und das ist gut so.