Auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Lichtenberg erklingt Musik aus dem Gebüsch: sphärische, elektronisch anmutende Klänge. Dann taucht eine Frau auf, ganz in Grün bis auf den Strohhut und die Schuhe, die einen Karren hinter sich herzieht. In dem Handwagen befinden sich allerlei technische Geräte, viele Kabel und ein Blumentopf.
Friedhofs-Besuchende, die diese Beobachtung machten, hatten nicht etwa eine religiöse oder drogeninduzierte Erscheinung, sondern sind der Künstlerin Cassis B Staudt begegnet. Und die Klänge, die da auch aus dem Dickkicht schallen, sind gewissermaßen Pflanzen-Gesänge.
Cassis B Staudt, bürgerlich Birgit Staudt, ist eigentlich Komponistin für Filmmusik. So arbeitete die Wahl-Berlinerin, die lange Jahre in New York lebte, zum Beispiel bereits mit dem preisgekrönten Art-House-Regisseur Jim Jarmusch zusammen. Sie ist eher Stadtmensch, musizierte bislang analog. Wie kam sie auf die Idee, Pflanzen mit elektronischen Klangerzeugern zu verbinden?
Elektroden treffen Blätter
„Ursprünglich hatte ich die Idee, eine Klima-Sinfonie zu schreiben“, erzählt sie. Während die Idee noch reifte, kam die Corona-Pandemie dazwischen. Zu dieser Zeit begann sie, anfangs eher als Zeitvertreib, mit Synthesizern zu experimentieren. Eine Freundin berichtete ihr dann von Künstlerinnen und Künstlern, die mit „Pflanzenmusik“ experimentierten.
Staudt erklärt das Verfahren wie folgt: An Blättern, Blüten, Wurzeln oder Ästen werden Elektroden angebracht. „Die messen den elektrischen Widerstand in der Pflanze”, erklärt Staudt. Dieses elektrische Signal wird dann mittels einiger Gerätschaften gewissermaßen in eine andere elektrische Information übersetzt, nämlich in eine MIDI-Datei.
© Dominik Lenze
MIDI ist die Abkürzung für Musical Instrument Digital Interface und bezeichnet ein in der Musikproduktion grundlegendes Dateiformat. Dieses enthält die Anweisungen für die elektronische Instrumente wie zum Beispiel Tonhöhen – quasi eine digitale Partitur.
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Dadurch werden die Pflanzen-Signale für die angeschlossenen Synthesizer sozusagen lesbar. Die elektronischen Klangerzeuger hat Künstlerin Staudt vorprogrammiert: „Die Pflanze entscheidet Tonhöhe und Rhythmus, ich den Klang”, sagt sie.
Pflanzen sind störrische Jam-Partner
Die Tonfolgen, die aus den Pflanzensignalen entstehen, lassen sich jedoch nicht wirklich deuten oder in eine Ordnung bringen. Die Pflanzenmusik lasse sich deshalb nur in bestimmten Kontexten weiterverarbeiten: „Für eine Audio-Installation kann man das nicht benutzen, die Pflanzen müssen schon mitmachen”, sagt Staudt.
Und auch wenn es so schön märchenhaft klingen mag: Aber die Pflanzen „sprechen“ nicht mit uns. „Wir neigen nun einmal dazu, Pflanzen zu vermenschlichen“, sagt Staudt. Faszinierend bleibt Pflanzengesang nichtsdestotrotz: „Was wir hier wirklich hörbar machen, ist das Leben in der Pflanze”, sagt die Künstlerin.
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Podcast veröffentlicht
Unbestreitbar ist die entrückende Wirkung, die die oft meditativen Klänge aus der Pflanzenwelt auf uns haben, gerade im Zusammenspiel mit dem Ambiente des weitläufigen Sozialistenfriedhofes mit seinen verschlungenen Wegen. Gemeinsam mit dem Klangkünstler Chrifin hat Staudt Gespräche mit Besuchenden des Friedhofes geführt und ihnen die Pflanzenmusik gezeigt.
„Durch die Pflanzenmusik kommen Menschen ins Reden“, sagt Staudt. Die Gespräche haben die beiden in einem Podcast verarbeitet, den man seit Sonntag auf dem Soundcloud-Account von Cassis B Staudt anhören kann. Dort kann man auch den wunderlichen Klängen lauschen, die Staudt dem Lichtenberger Grün entlockt hat.