Die letzte gute Gewissheit

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Die Welt ist schlecht, die Not ist groß, das Geld ist knapp, auf nichts mehr ist Verlass, sodass man sich angesichts des Bombardements an schlechten Nachrichten am liebsten in einem Bunker verkriechen würde. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, einen lichten Ort mit schöner Aussicht, an dem alles noch so gut wie immer und auf das Glück garantiert Verlass ist, weil dort Opulenz und Generosität statt Not und Kleinmut herrschen. Es ist eine Welt, in der der Imperial-Kaviar so verschwenderisch die Jakobsmuscheln umspielt, als seien es Belugalinsen, der Sommelier über eine Schatzkammer von 20.000 grandiosen Flaschen gebietet, als sei er Dionysos‘ Stellvertreter auf Erden, der Käsewagen so reich mit den besten Frommages Frankreichs bestückt ist, als diene er sonst dem König des Schlaraffenlandes als Dienstwagen. Dieser Ort ist die „Schwarzwaldstube“ des Hotels Traube Tonbach in Baiersbronn, einer der wenigen mythischen Schauplätze der kulinarischen Geschichte Deutschlands, eines der letzten Refugien, in dem die Welt niemals aus den Fugen zu geraten scheint.

Das Ambiente in der neuen „Schwarzwaldstube“ ist erfrischend dezent.Das Ambiente in der neuen „Schwarzwaldstube“ ist erfrischend dezent.Schwarzwaldstube

Seit fast einem halben Jahrhundert gibt es die „Schwarzwaldstube“, seit 1992 wird sie – abgesehen von einer kurzen, brandbedingten Pause – mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, seit 2017 ist dort der gebürtige Dresdner und längst im Nordschwarzwald naturalisierte Torsten Michel Küchenchef, der glücklicherweise Geschichtsträchtigkeit nicht mit Musealität und Traditionstreue nicht mit Stillstand verwechselt. Schon beim ersten Küchengruß versöhnt er auf silbernen Löffeln leichthändig die Klassik mit der Weltküche und kombiniert nicht nur nach alter Väter Sitte Rindertatar mit Imperial-Kaviar, sondern auch Thunfischbauch mit Ingwer und Tapioka und Rotschwanzmakrelen mit Chili und Mango so souverän, als seien alle Ingredienzien dieser Welt in seiner Küche willkommen. Und gleich danach beweist er abermals, dass sein Horizont nicht an den Tannenwipfeln ringsum endet: Rosinen und Granatapfel , Harissa-Dip und Orangen-Kardamom-Sud, Kichererbsen-Eis und Minze-Petersilien-Salat machen aus einem roh marinierten Blumenkohl einen Boten aus dem Morgenland, der sich an der Murg genauso heimisch fühlt wie an Euphrat und Tigris.

Torsten Michel ist noch nie ein Kind von Aromentraurigkeit gewesen und bleibt sich selbst gerade in Zeiten der einstürzenden Gewissheiten nibelungentreu. Aus seinen bretonischen Austern macht er völlig frei von modischem Minimalismus oder asketischer Selbstkasteiung ein Sinnesfreudenfest, serviert die Meeresfrüchte einerseits glasig gegart, andererseits als Gelée, Vinaigrette und luftige Kugel aus aufgeschäumten Austernwasser, kombiniert sie mit Passe-Pierre, Stabmuscheln, Kopfsalat als zartestem Herz und feinstem Sorbet – und mit derart viel Kaviar, als säßen wir an der Tafel des Zaren von Russland. Es ist ein fast schon verschwendungssüchtiger Teller, so kraftvoll wie komplex, so harmonisch wie elegant, so virtuos wie einfallsreich. Und kaum glaubt man, damit sei das Maß an Geschmacksopulenz ausgeschöpft, kommt ein Kaisergranat auf den Tisch, der die Austern spielend übertrumpft – mit Kokos, Kaffirlimette, Chili, Coraille-Creme, gerösteten Erdnüssen, reduziertem Krustentier-Jus und Gurken-Garnelen-Salat, einem wahren Aromen-Basar, der selbst geübte Feinschmecker an den Rand ihrer Aufnahmefähigkeit bringt.

Torsten Michel ist seit 2017 Küchenchef.Torsten Michel ist seit 2017 Küchenchef.Schwarzwaldstube

Erfrischend dezent ist bei all dieser Opulenz das Ambiente der neuen „Schwarzwaldstube“, deren Vorgängerin 2020 bei einem Brand zerstört wurde und die 2022 nach einem Intermezzo in einem Provisorium ihr neues Domizil an alter Stelle bezog. Eichenholzpaneele mit Millionen mikroskopisch kleiner Löcher, die den Schall wie von Zauberhand schlucken, ein geometrisch strenger Kronleuchter, der an ein Fischskelett erinnert, und große Fensterfronten, die den Blick ins Tonbachtal öffnen, befreien das Lokal von jeder Schwere des Schwarzwälder Schnitzholzbarocks. Und das junge, turnschuhtragende Serviceteam mit Chefsommelier Stéphane Gass an der Spitze lässt ohnehin nicht die Spur von Steifheit aufkommen. Der Elsässer Gass, längst einer der besten Sommeliers der Welt, ist auch schon seit 35 Jahren in der Traube Tonbach und der lebende Beweis dafür, dass Kontinuität nicht in Stagnation enden muss.

Die anderen Beweise liefert Torsten Michel am laufenden Band, einen gebratenen Wolfsbarsch mit Pinienkern-Couscous-Mousseline, Dattelessig und Lachskaviar zum Beispiel, oder ein Filet vom australischen Wagyu, als Tournedos serviert und als transkontinentaler Liebesbeweis der Lebenslust zelebriert. Das Fleisch, zart wie eine Mousse und doch aromenstark wie ein Entrecôte, glasiert Michel mit dem Lack der traditionellen Kabayaki-Fischgerichte aus Japan und krönt es passend dazu mit einem Räucheraal. Das allein ist schon eine Sensation. Doch dann arrondiert der Chef sein Fleisch auch noch mit Krauser Glucke und Lotuswurzeln, Shiitake-Kompott und geschmorter Sellerie, gießt eine ungeheuer intensive Sauce mit Ingwer und Yuzu an und zeigt damit meisterhaft, wie inspirierend eine fest in der Tradition verankerte Küche sein kann.

Ganz klassisch wird es dann beim Käsewagen, einer hölzernen Handanfertigung für die „Schwarzwaldstube“, der – „très français“ – selbstredend vor den Desserts angerollt kommt und nicht nur mit zwei Dutzend Sorten aus Schafs-, Ziegen- und Kuhmilch bestückt ist, sondern auch mit einer ganzen Delegation passender Alkoholika. Stéphane Gass schenkt weißen Madeira und uralten Port, Spätlesen von der Mosel und die besten Jahrgänge der größten Champagner zu den Käsen aus, ein weiteres Detail der opulenten Generosität, wie man sie in deutschen Spitzenhäusern kaum noch findet. Eine Tarte Tatin mit Sauerrahmschnee, Apfelwein-Sud und Calvados-Bonbons, zu dem ein 2011er Rieussec-Sauternes aus dem Hause Rothschild gereicht wird, und eine dekonstruierte Schwarzwälder Kirschtorte aus Sauerkirsch-Coulis und Schokoladen-Soufflé beschließen den Abend so, wie er begonnen hat: in der Gewissheit, dass diese verrückte Welt auch gut und schön sein kann.

Information

Schwarzwaldstube, im Hotel Traube Tonbach, Tonbachstraße 237, 72270 Baiersbronn, Telefon: 07442/492665, www.traube-tonbach.de. Menü ab 295 Euro.

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