Deutsche Bahn: Holocaust-Überlebender schreibt offenen Brief an Verkehrsminister Volker Wissing

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»Bis heute Abend und sei ein braver Junge!« – das waren die letzten Worte seiner Mutter. Salo Muller hörte sie morgens vor dem Kindergarten. Da war er sechs. Noch am selben Tag wurden die Eltern von den Nazis verhaftet und mit Zügen der Deutschen Reichsbahn aus den Niederlanden nach Auschwitz verschleppt. Von dort kehrten sie nie zurück.

Muller ist heute 88 Jahre alt. Erst in diesem Frühjahr, gegen Ende seines Lebens, hatte er die Kraft, selbst nach Deutschland zu reisen. Schon 2020 forderte er von der Deutschen Bahn eine finanzielle Entschädigung für die Deportation seiner Familie. Doch auf Gerechtigkeit wartet er noch immer.

Brief direkt an den deutschen Verkehrsminister

Nun haben er und das deutsche Auschwitz-Komitee in einem offenen Brief an Bahn-Chef Richard Lutz und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) das Thema erneut aufgegriffen. Salo fordert einen finanziellen Ausgleich für das historische Unrecht – »und eine ernst gemeinte Entschuldigung für alle niederländischen Überlebenden der Deportationen und für die Angehörigen der Ermordeten«.

Mehr als 50 Menschen, darunter Vertreter von Überlebenden-Organisationen, Historikerinnen und Politiker unterstützen ihn.

Verschleppung niederländischer Juden im Zweiten Weltkrieg

Verschleppung niederländischer Juden im Zweiten Weltkrieg

Foto: United Archives International / IMAGO

Salo berichtet in dem Brief davon , wie er als kleiner Junge die Verschleppung seiner Eltern durch die Nazis erlebte. »Der Schmerz, den ich an diesem Tag fühlte, wird mich mein Leben lang begleiten«, schreibt er. »Dieser wird verstärkt durch den Schmerz darüber, keine, wenn auch nur symbolische, Gerechtigkeit erfahren zu haben.«

Die Opfer mussten für ihre Deportation zahlen

Bereits 2020 hatte er im SPIEGEL vom Schicksal seiner Eltern unter den Deutschen erinnert. »Ich denke Tag und Nacht an sie, kann einfach nicht sorglos durchs Leben gehen. Das ist wie eingebacken in meinem Kopf«, sagte er damals.

Die Deutsche Reichsbahn transportierte viele Opfer des Holocaust damals nicht nur in die Konzentrationslager, sondern verdiente auch noch daran. Vier Pfennige rechnete die Reichsbahn bei der NS-Führung pro Person und Schienenkilometer ab, Kinder kosteten die Hälfte – und ab 400 Menschen gab es einen Mengenrabatt. Umgerechnet 445 Millionen Euro soll die Reichsbahn laut der Initiative »Zug der Erinnerung« am Massentransport in die Vernichtungslager verdient haben. Historiker bezeichneten sie als »unerlässliches Element in der Vernichtungsmaschinerie«.

Seit Jahren passiert wenig

Dass Salo mit 88 Jahren nun erneut an den heutigen Weltkonzern Deutsche Bahn und den Verkehrsminister schreibt, liegt vor allem daran, dass seitdem wenig passiert ist. Die Deutsche Bahn antwortete schon damals, dass das heutige Unternehmen nicht in der Rechtsnachfolge der Deutschen Reichsbahn stehe. Der offene Brief will das nicht gelten lassen: »Es geht hierbei nicht nur um eine finanzielle Schuld, sondern auch um moralische Verantwortung.«

Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)

Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)

Foto: Thomas Trutschel / picture alliance

Die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem hatte im Juli ein neues Erinnerungszentrum eröffnet. Zu den Unterstützern gehörten auch mehrere deutsche Unternehmen, darunter die Bahn. »Wir sind uns auch der historischen Dimension unserer Unternehmensgeschichte bewusst«, verkündete die PR-Abteilung des Unternehmens damals.

»Was als Geste des Engagements erscheinen mag, wirkt auf uns Betroffene wie ein Schlag in die Magengrube, da die konkreten Opfer bis heute nicht angemessen entschädigt wurden«, schreibt Salo jetzt in seinem vielleicht letzten öffentlichen Brief. »Vielmehr sollte die Deutsche Bahn auf die Bedürfnisse der Hinterbliebenen und Überlebenden eingehen und mit uns über eine Lösung sprechen.«

Eine Antwort der Deutschen Bahn steht bislang noch aus.

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