Derby-Day, zwei Tempel und ein Raumschiff: Wochenende im Paradies

vor 4 Stunden 1

Traumdestinationen für Fans gibt es viele, Fußball-Hauptstadt aber nur eine: London. Nicht weniger als sieben der 20 aktuellen Premier-League-Klubs kommen aus der englischen Metropole. Insgesamt zwölf Londoner Vereine spielen in den ersten drei Profiligen. Was Anzahl und Kapazitäten der Stadien betrifft, könnte die Stadt eine EM mit ein paar Adaptionen locker alleine ausrichten. Für das perfekte Football Weekend reicht es allemal.

Craven Cottage, das Stadion des Fulham FC - direkt an der Themse mit einer alten und einer neuen Längstribüne.

Craven Cottage, das Stadion des Fulham FC - direkt an der Themse mit einer alten und einer neuen Längstribüne. Harald Hofstetter

Zwei Stadtderbys zwischen Full English Breakfast am Vormittag und ein paar Pints Lager im Pub am Abend. An einem ganz normalen Samstag in London geht sich dazu auch noch ein längerer Spaziergang an der Themse aus. Und wenn es das in Englands Hauptstadt heftig strapazierte Budget zulässt, rundet man das ideale Fußball-Wochenende am Sonntag noch mit einem Matchbesuch im modernsten und beeindruckendsten Stadion Europas ab. Welche Wochenenden man sich für einen solchen Genusstrip am besten aussucht? So gut wie alle! Denn zwölf Klubs alleine in den obersten drei Profiligen Premier League, Championship und League One garantieren ideale Spielpläne über das ganze Jahr - von ein paar Wochen Pause im Frühsommer abgesehen.

In jeder anderen Stadt Europas würden zwei oder gar drei große Sportevents an einem Tag das öffentliche Leben lahmlegen. In London dreht man sich am Samstagmorgen noch einmal gemütlich um und schläft eine halbe Stunde länger. Denn das ganz normale Football-Weekend in der englischen Hauptstadt sprengt regelmäßig alle nur vorstellbaren Dimensionen. Und da reden wir noch nicht von den unzähligen kulturellen Großveranstaltungen und natürlich anderen Sportarten wie Rugby oder - wie am vergangenen Sonntag - American Football (NFL) in Wembley, die parallel dazu ebenfalls von hunderttausenden Menschen besucht werden. In London läuft das alles unter Business as usual.

Alleine in der Premier League, der mit riesigem Abstand finanzkräftigsten und dadurch sportlich hochkarätigsten Liga der Welt, spielen sieben Klubs aus London: Arsenal, Brentford, Chelsea, Crystal Palace, Fulham, Tottenham und West Ham. An der von 24 Teams in 46 Runden (ohne Play-off) gespielten Championship nehmen mit Charlton, Millwall und den Queens Park Rangers diese Saison drei Traditionsvereine aus der britischen Metropole teil. Und in der drittklassigen, ebenfalls hochprofessionellen League One findet man noch zwei Londoner Klubs: Leyton Orient und Wimbledon. Jede einzelne dieser zwölf Fußball-Institutionen ist einen Besuch wert - aufgrund ihrer Geschichte, Traditionen, Stadien, Fans und natürlich der einzigartigen Spielkultur.

Spektakulärer Ballungsraum der Premier League

Nimmt man nur dieses Wochenende als Beispiel, bleibt dem fußballaffinen Inselfan die Spucke weg: Samstag steigen die Premier-League-Partien Chelsea gegen Sunderland sowie Brentford vs. Liverpool. Dazu empfängt Millwall in der Championship Leicester City. Und in der League One spielen sowohl Leyton Orient als auch Wimbledon zu Hause. Am Sonntag bildet ein Derby zwischen Arsenal und Crystal Palace den Ausklang. Dabei haben Arsenal sowie Chelsea erst unter der Woche Champions-League-Heimspiele bestritten und war Palace in der Conference League daheim im Einsatz. Fußball-London macht einfach nie Pause. Und das letzte Wochenende hatte sogar noch mehr zu bieten.

Die Queens Park Rangers und Milwall trafen einander Samstagmittag (12.30 Uhr Ortszeit) in der Championship zum ersten Derby des Tages. Das deutlich in die Jahre gekommene Loftus Road Stadium, in dem QPR seit 1917 seine Heimspiele austrägt, erreicht man - in London müßig zu erwähnen - am besten mit der U-Bahn oder liebevoll: der Tube. Diese bietet immer mehrere Anreisevarianten, je nach Lust und Laune auf einen kürzeren oder längeren Spaziergang zu den Eingängen. Mit der Central Line zum Beispiel bis Shepherd’s Bush, dem Stadtteil, in dem QPR zu Hause ist - und man schlendert ins nächste Pub, von wo aus man neu aufgestellt und rechtzeitig die letzten Meter in Angriff nimmt.

Die Queens Park Rangers spielen seit über 100 Jahren an der Loftus Road. Harald Hofstetter

Immer pünktlich sein und Beine einrollen!

Denn der typische, stets höfliche und kommunikative Sitznachbar im Londoner Stadion kommt zwar erst knapp vor Spielbeginn auf seinen Platz, hat es aber gar nicht gern, wenn man nach Anpfiff eintrudelt und beim Durchzwängen alle zum Aufstehen nötigt. Beinfreiheit ist an der Loftus Road mit 19.000 Sitzplätzen ein Streichresultat, enger geht nicht. Menschen über 1,80 m schnallen sich Unterschenkel am besten hinter dem Kopf zusammen. Das Match hatte viel zu bieten und endete mit 2:1 für Millwall, was 3.000 stimmgewaltige Auswärtsfans begeisterte. Überhaupt sind Gästefans in englischen Stadien lauter zu hören. Das Heimpublikum geht mit dem Spielgeschehen mit, dann dafür so richtig, gönnt sich dazwischen aber auch Ruhepausen.

Apropos Gönnen: Nach dem Derby ist vor dem Derby - und so ging es weiter in Richtung Craven Cottage, der stimmungsvollen Heimstätte des Fulham FC, der es um 17.30 Uhr vor rund 30.000 Fans mit Premier-League-Tabellenführer Arsenal zu tun bekam. Mit der District Line bis zur Putney Bridge und dann wieder zu Fuß ging sich das leicht aus. Es blieb noch Zeit für einen Spaziergang an der Themse. Vom gegenüberliegenden Ufer genießt man einen perfekten Blick auf die neue Tribüne, den direkt am Fluss liegenden Riverside Stand. Stimmungsvoller ist es auf dem alten Johnny Haynes Stand mit seiner klassisch englischen Dachkonstruktion samt Trägern und den fast schon historisch anmutenden Holzstühlen. Die Atmosphäre unter Flutlicht war top, die Leistung der Gastgeber durchaus okay, aber Arsenal war klar besser und gewann 1:0.

Tottenhams Kolosseum als absolutes Highlight

Nach den traditionsreichen Fußball-Tempelanlagen gab es dann für den Sonntag keinen extremeren Gegensatz als die Entdeckung des 2019 eröffneten Megastadions von Tottenham Hotspur. Mit der Piccadilly Line geht es weit Richtung Norden bis zur Station Wood Green, von wo (Geheimtipp!) ein kostenloser Shuttlebus fast bis direkt zum Stadion an der White Hart Lane fährt. Wie ein aus der Zukunft gekommenes und im rauen Nordlondon gelandetes, kolossales Raumschiff steht es dann da. Von außen futuristisch, wirkt die multifunktionelle Arena innen aufgrund der Höhe gewaltig groß, obwohl sie mit knapp 63.000 Plätzen bei weitem nicht so viele Zuschauer fasst wie das Wembley Stadium (90.000). Kolportiert wurden Baukosten in Milliardenhöhe. Auch eines der NFL London Games wird jeden Herbst hier ausgetragen.

Ein gewaltiges Bauteil aus der Zukunft landete in Nordlondon. Harald Hofstetter

Gäbe es eine globale Stadionerlebnis-Skala wäre die Spurs-Hütte wohl an dem des Wiener Ernst-Happel-Stadions entgegengesetzten Ende zu finden. Was Zugänge, Aufgänge, Gastronomiestände, Aufenthaltsbereiche und Toilettenräume betrifft, wähnt man sich im Vergleich wie auf einem anderen Planeten. Kein Drängen, keine Wartezeiten, alles neu, sauber und hell. Die komfortablen Sitzplätze bieten angesichts der Steilheit der Tribünen und ihrer spektakulären Nähe zum Spielfeld unglaublich viel Platz. So werden drei Stunden Aufenthalt zum reinen Vergnügen und gerät das Match beim ersten Besuch fast zur Nebensache. Tottenham erwischte keinen guten Tag und verlor gegen Aston Villa trotz früher Führung mit 1:2.

Faszinierender als die Leistung der Gastgeber waren vier riesige, direkt unter dem Dach hängende Bildschirme, die an allen vier Ecken der Arena gestochen scharfe Live-Bilder des Spiels und unzählige Wiederholungen der Tore lieferten. Nach dem Schlusspfiff leerten sich die Ränge blitzartig und begann das mühsamste Unterfangen des Tages - in einer beeindruckend langen Schlange von allerdings sehr disziplinierten Menschen in die Overground-Station White Hart Lane zu gelangen. Schließlich verloren sich die 63.000 wieder irgendwo entlang der hunderten Kilometer Schienennetz und Haltestellen über und unter der Erde, schlüpften in einen Doppeldeckerbus oder ein Taxi, verschwanden im Meer von Menschen auf 1.572 Quadratkilometern Stadtfläche (viermal Wien). 24 Stunden später spielte übrigens West Ham am Montagabend vor 63.000 Zuschauern im Olympiastadion von 2012 gegen Brentford.

Harald Hofstetter

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