Der, den alle mögen

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Mit Andres Iniesta verlässt einer der ganz Großen die Fußballbühne. Eine Art Anti-Held, den man irgendwie nur mögen kann. Selbst die, die das eigentlich gar nicht dürfen.

Da stand er nun, dieser 18-jährige blasse Bursche, und alles, was ihm sein Trainer Louis van Gaal auf den Weg mitgegeben hatte, war: "Da ist der Platz. Er gehört dir. Spiel!" Beim 1:0 in der Champions League gegen Brügge war das, am 29. Oktober 2002. Der Name des Spielers: Andres Iniesta Lujan.

Fast 22 Jahre ist das her, und Iniesta tat es bis zum vergangenen Sommer noch immer: er spielte, auch im Alter von 40 Jahren. Wobei das bei ihm irgendwie zu profan klingt: Denn Iniesta spielte nicht nur Fußball, er zelebrierte ihn. Er kreiselte, er wieselte, er flitzte umher. Er fand Lücken, die keiner sah, spielte Pässe, die keiner erwartete. Er ließ wildfremde Leute miteinander diskutieren, wie er gerade aalgleich durch die drei Abwehrspieler geschlüpft ist - da war doch gar kein Platz! Samuel Eto'o bezeichnete ihn einst als "einen der wenigen Fußballer, denen alles Schwierige leichthin gelingt", Sergio Ramos gar als den "Erleuchteten, der von einem Zauberstab berührt wurde". Sein Ex-Trainer Frank Rijkaard nannte ihn ob seiner Zuckerpässe schlicht "den Bonbonverteiler".

Spielersteckbrief Iniesta

Iniesta

Iniesta Andres

Doch Iniesta war viel mehr als ein guter Fußballer. Er war der geborene Anti-Held - der, den alle mögen. Iniesta ist klein (1,71 Meter), ein Leichtgewicht (68 Kilo), er hat helle Haut, wirkt auf den ersten Blick fast ein wenig kränklich. Schon als Jugendlicher hat er dünnes Haar, inzwischen hat er gar keine mehr. Äußerlich eher der Stereotyp eines Büroangestellten. Aber einer der weltbesten Fußballer? Nie im Leben.

Von La Mancha in La Masia

Dass diesem Jungen eine Gabe in die Wiege gelegt worden war, das konnte man jedoch schlicht nicht übersehen. Seine ersten Schritte macht er im 2000-Seelen-Dorf Fuentealbilla in der Region La Mancha, 2007 wird in dem Ort übrigens eine Straße nach ihm benannt ("Calle Andres Iniesta"). Er wächst mit seiner jüngeren Schwester Maribel in einer Arbeiterfamilie auf. Vater José Antonio ist Maurer, in der Dorfkneipe hilft Mutter Maria dem Opa bei der Arbeit.

Sein erstes Spiel für Barcelona: Andres Iniesta im Jahr 2002 gegen Brügge. Getty Images

Andres spielt Fußball. Zunächst bei Albacete Balompié aus der Provinzhauptstadt Albacete. Mit zwölf Jahren wird er bei einem Spiel seines Klubs von Scouts des FC Barcelona entdeckt. Sie verpflichten ihn sofort, die Familie kommt mit. So darf Iniesta auch seinen Lieblingsspieler kennenlernen: Pep Guardiola, dessen Poster über Iniestas Bett hing. Das Bild war mit der Widmung versehen: "Für den besten Spieler, den ich jemals gesehen habe."

Du wirst mich in die Rente schicken. Aber Iniesta - der schickt uns alle in den Ruhestand.

Die Begeisterung sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Guardiola, damals noch aktiv, sieht Iniesta in "La Masia", der legendären Jugendakademie der Katalanen - und traut seinen Augen kaum: "Schau dir mal diesen Iniesta im Jugendteam an", sagt er zu Xavi, selbst gerade als Supertalent dem Fußballinternat entschlüpft. "Du wirst mich in die Rente schicken. Aber Iniesta - der schickt uns alle in den Ruhestand."

Fast 700 Pflichtspiele und 31 Titelgewinne mit Barcelona später weiß man: Guardiola hatte recht. Kein Spanier war jemals so erfolgreich wie Iniesta. Neunmal gewann er mit den Blaugrana die Meisterschaft, dazu kommen sechs Pokalsiege und vier Champions-League-Triumphe. Genau ein Spieler stand bei allen vier gewonnenen CL-Finalspielen von Barcelona (2006, 2009, 2011, 2015) jedes Mal auf dem Platz: Iniesta. Im Juli 2007 soll Real Madrid 60 Millionen Euro für ihn geboten haben, damals noch eine astronomische Summe. "Wenn ich sage, dass ich bei Barcelona meine Karriere beenden möchte, dann meine ich das auch von ganzem Herzen so", sagte Iniesta. Da war er gerade mal 23 Jahre alt.

Stattdessen wirbelt er mit den Blaugrana. Erst mit Ronaldinho, der Iniesta einst als "das größte Versprechen des spanischen Fußballs" bezeichnete. Oder mit Eidur Gudjohnsen. "Alle meine Freunde fragen mich nach Ronaldinho", sagte Barcas isländischer Stürmer damals. "Wie er ist, was er macht, ob er mit mir redet. Und ich erzähle ihnen von Iniesta."

In La Masia spielt er zunächst tief vor der eigenen Abwehr, ehe sein Offensivtalent nach und nach entdeckt und gefördert wird. Unter Guardiola entwickelt sich das "Tiki Taka", in der Zeit von 2009 bis 2013 gewinnt Barca 15 Titel. Iniesta ist neben Xavi und Lionel Messi einer der Strippenzieher in dem Hochgeschwindigkeitspass-System. Und ein Mann für die wichtigen Momente. Unvergessen sein Treffer im Halbfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Chelsea 2009: In der Nachspielzeit trifft er mit einem 17-Meter-Schuss ins Tordreieck entscheidend zum 1:1-Endstand, drei Wochen später ist Barca Champions-League-Sieger.

Die halbe Welt lernt Dani Jarque kennen

Eines seiner wichtigsten Tore - doch DAS Tor soll noch folgen. Ein Tor, das eine Nation feiern und die halbe Welt Spalier stehen lässt, ob sie nun will oder nicht. Nachdem Iniesta im WM-Finale 2010 den Siegtreffer erzielt und sein Trikot ausgezogen hatte, war darauf die Botschaft "Dani Jarque siempre con nosotros" (zu deutsch: Dani Jarque ist für immer mit uns) zu lesen. Sein langjähriger Freund Daniel Jarque, der ehemalige Kapitän von Espanyol Barcelona, war 2009 im Alter von 26 Jahren an Herzversagen gestorben. In seiner Biographie "Andres Iniesta, das Spiel meines Lebens" berichtet er von seinen anschließenden Depressionen, er sucht sich professionelle Hilfe. Sein Weg der Verarbeitung: Er macht ein Milliardenpublikum auf Jarques Schicksal aufmerksam - was für ein gigantische Andacht für den alten Kumpel!

Iniesta nach seinem Tor im WM-Finale, das ihn auch bei Espanyol zum Volkshelden machte.

Iniesta nach seinem Tor im WM-Finale, das ihn auch bei Espanyol zum Volkshelden machte. picture alliance (2)

Es ist nicht der einzige Schicksalsschlag in Iniestas Leben. 2014 hat seine Frau Anna eine Fehlgeburt. "Es gehört zum Leben dazu, Widerstände zu überwinden", sagt Iniesta, inzwischen dreifacher Vater. "Ich kenne niemanden, der keine schlechten Zeiten hatte. Man muss sich mit Leuten umgeben, die einem wichtig sind. Aus allem lernt man etwas, und das hat mir geholfen, ein besserer Mensch zu werden."

Espanyols Fans dankten ihm seine Jarque-Geste übrigens bis zum Schluss. Jeder Spieler der verhassten Blaugrana wurde beim Vorlesen der Aufstellung gnadenlos ausgepfiffen. Wenn Iniestas Name erschien, applaudieren die Fans. Sie vergessen nicht, dass er Jarque unvergessen machte. Bei seiner Auswechslung im Derby 2015 bekam Iniesta, eine Barca-Ikone, Standing Ovations. Sogar Espanyol mag Iniesta.

Platzverweis? Iniesta weiß nicht, wie sich das anfühlt

So wie eben alle irgendwie. Die Spanier sowieso, er hat sie nicht nur zum WM-Titel geschossen, sondern auch noch zwei EM-Trophäen (2008 und 2012) miterobert. Bei der EURO 2012 wurde er zum besten Spieler des Turniers gewählt, im selben Jahr auch zu Europas Fußballer des Jahres. "Wenn er "Andresinho" heißen würde, hätte er auch zweimal den Ballon d'Or gewonnen", sagt Sergio Ramos.

Der Organisator France Football hat sich inzwischen sogar dafür entschuldigt, Iniesta nie zum Weltfußballer gekürt zu haben. Einen Spieler, der als einziger in den Endspielen von Weltmeisterschaft (2010), Europameisterschaft (2012) und Champions League (2015) zum Man of the Match gewählt wurde.

Aber er ist eben kein "Andresinho". Und gerade das macht ihn so beliebt. Weil er so herrlich menschlich ist; so uneitel, so allürenlos, so bescheiden. Und so fair. Ein Platzverweis? In seiner Vita nicht vermerkt. Iniesta sich schauspielend am Boden wälzend? Gibt es nicht. Iniesta übertrieben provokant? Unvorstellbar. Iniesta respektlos? Niemals. Die Vorstellung eines Iniesta, der mit merkwürdigen Jubelarien das gegnerische Publikum provoziert, ist so absurd wie die eines Iniesta, der einem Gegenspieler den Handschlag verweigert.

"Iniesta, geh nicht!"

Abschied unter Tränen: Iniesta bei der Pressekonferenz 2018. imago images

Iniesta ist kein Showmann. Er ist ein Staatsmann. Die Marca nannte den Barca-Kapitän nach dem gewonnenen Pokalfinale gegen Sevilla 2018 (mit Iniesta-Tor) den "letzten Kaiser". In Barcelona ist er eh ein Volksheld. "Nosotros te queremos, Iniesta quédate", sang das Publikum vor dem Abschied wochenlang. "Wir lieben dich; bleib, Iniesta!"

Und wer ihn nicht liebt, der respektiert ihn zumindest. Bei seiner Auswechslung im Pokalfinale erhob sich (wieder mal) das ganze Publikum. Sevilla-Fans spornten den eigenen Anhang sogar an, sich gefälligst für den Tränen verdrückenden "Kaiser" zu erheben. Die AS, genauso wie die Marca in Madrid erscheinend und klar Barcas Erzrivale Real zugewandt, bettelte auf der Titelseite: "Iniesta, geh nicht!"

Vertrag auf Lebenszeit? Den bekam bei Barca nur Iniesta

Doch Iniesta ging, nach insgesamt 22 Jahren in Barcelona und gemeinsam mit Frau Anna Ortiz und den Kindern Valeria und Paolo Andrea - obwohl er bei Barca einen Vertrag auf Lebenszeit unterschreiben durfte. Eine Ehre, die keinem anderen Spieler jemals zuteil wurde. Seine Karriere beendete er zwar doch nicht bei den Katalanen - doch gegen seinen Herzensklub spielen? Das, so versprach er bei seinem tränenreichen Abschied,  werde er nie. Er hielt Wort, über Vissel Kobe ging es im August 2023 weiter in die Vereinigten Arabischen Emirate. Dort bestritt er am 1. März 2024 das 1000. Pflichtspiel seiner Karriere.

Was der Fußball ihm bedeutet habe, wurde Iniesta in einem kurzen Video gefragt, das einen Tag vor seinem Rücktritt via Social Media erschien. Er dachte nach, blickte in die Luft, räusperte sich, lachte. Dann begann er zu weinen. Iniesta ohne Fußball, das ist nicht vorstellbar. Vielleicht wird er Trainer, vielleicht Funktionär, ganz genau weiß er es offenbar selbst noch nicht. Wie er am Dienstag bei seiner Verabschiedung erklärte, hat er jedenfalls bereits mit dem Trainerschein begonnen.

Doch die aktive Karriere, sie ist endgültig vorbei, auch wenn er "am liebsten noch mit 90 Jahren gespielt" hätte. Er wird von nun an nicht mehr "rausgehen und spielen", so wie es ihm van Gaal einst eingebläut hatte. Wahrscheinlich ist es aber auch ziemlich egal, was ein Andres Iniesta tut. Die Leute werden es mögen. Und ihn mögen.

Christoph Laskowski

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