Seit etlichen Tagen wird erregt über die Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz debattiert, wonach Migration zu einem „Problem im Stadtbild“ geführt habe. Wie blicken Sie auf die Diskussion?
Unser Stadtbild ist ohne Migration nicht zu denken. Die Aussage von Herrn Merz knüpft an einen Problemdiskurs an, den er und die CDU schon seit Monaten bespielen und der überhaupt nicht förderlich ist für eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft ist. Migration hat nicht erst seit 2015 stattgefunden. Deutschland ist seit 1945 und auch schon davor kontinuierlich durch unterschiedliche Migrationsprozesse gekennzeichnet. Die Aussage von Herrn Merz ist ahistorisch und selektiv.
Was meinen Sie mit „selektiv“?
Wenn eine Bevölkerung heterogen ist – sozial, kulturell und hinsichtlich der Alterszusammensetzung – und zugleich von verschiedenen Sozialpolitiken, von Verarmung und Ungleichheiten geprägt ist, treten im öffentlichen Raum Phänomene auf, die als störend wahrgenommen werden. Obdachlosigkeit spielt eine Rolle. Aber auch junge Menschen, die aufgrund von Stadtplanung nicht genügend Freiraum zugesprochen bekommen und sich anderswo den Raum nehmen. Wenn dann Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen aufeinanderstoßen, kommt es zu Konflikten. Das sind grundlegende Probleme, die in erster Linie durch Stadtplanung verursacht werden und nicht durch die Menschen selbst. Hinzu kommt: Auch im reichen Deutschland haben Verarmungsprozesse eingesetzt. Diese Verarmungsprozesse führen in den Städten zu Problemen, die wir sonst eher in der Peripherie Europas wahrgenommen haben. Das alles ist ein Schrei nach einer funktionierenden Sozialpolitik.
Sabine HessPicture AllianceUnterstützer von Merz sagen, er spreche mit der Stadtbild-Aussage ein reales Problem an, das viele Menschen in ihrem Alltag wahrnähmen. Diese Wahrnehmung beziehe sich nicht auf Migranten allgemein, sondern auf kriminelle Migranten. Würden Sie da nicht differenzieren?
Ich arbeite gerade in einem EU-Forschungsprojekt über europäische Abschiebepolitiken. Und wir sehen ganz deutlich, wie zunehmend das Argument des kriminellen Migranten herangezogen wird, um Abschiebungen zu begründen. Die Messerangriffe und andere Fälle in der Vergangenheit sind schrecklich und absolut zu verurteilen. Wir wissen aber auch, dass die Kriminalitätsstatistik nicht zeigt, dass Migranten per se krimineller sind als andere. Zudem wissen wir aus der Kriminologie und auch aus der Sozialforschung, dass es einen Konnex gibt zwischen Kriminalisierung und Migration, weil gewisse Straftatbestände nur greifen, wenn man Migrant ist. Verschiedene Rechte und Auflagen kann ich nur verletzen, wenn ich Migrant bin, wie die Residenzpflicht und verschiedene Meldepflichten. Es gibt außerdem Studien dazu, die belegen, dass Gerichte gerade bei Migranten dazu neigen, höhere Strafen zu erlassen.
Merz hat Frauen und „Töchter“ als Begründung für seine Stadtbild-Aussage ins Spiel gebracht. Gibt es wissenschaftliche Studien, die darlegen, wie Migration das Sicherheitsgefühl von Frauen verändert hat?
Solche Studien kenne ich nicht. Aber das ist eine ganz alte Strategie, Frauen und Geschlechterverhältnisse als Argument heranzuziehen, um migrantische Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren. Diese Strategie reicht tief in die Geschichte der deutschen Antimigrationspolitik zurück. Wir müssen nicht erst zurückgehen zur Kölner Silvesternacht 2015. Die größte Gefahr für Frauen, das belegen Studien, ist das eigene Zuhause. Etwa alle vier Minuten wird eine Frau Opfer von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Und diese Gewalt durchzieht alle Schichten, unabhängig von der Hautfarbe. Deshalb verstellt diese Diskursformation, wo die realen Gefahrenräume für Frauen eigentlich sind.
Wie wirkt sich eine solche Debatte auf die Sicherheitserfahrung von migrantischen Frauen aus?
Diese Frage wird viel zu selten gestellt. Sicherheitsgefühle von Migranten und auch von Migrantinnen spielen immer weniger eine Rolle. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verwaltet EU-Gelder, die etwa in die Infrastruktur zur Flüchtlingsunterstützung hineingeflossen sind. Und mit diesen Geldern wurden zum Beispiel in den letzten Jahren auch Beratungsangebote und Räume für geflüchtete Frauen aufgebaut. Der Bund plant, diese Gelder zu streichen. Das heißt, auch hier sehen wir eine Politik, die eben die Sicherheitsbedürfnisse und Belange von geflüchteten und migrantischen Frauen nicht mehr in den Blick nimmt, sondern eher restriktiv Schutzmaßnahmen und Unterstützung entzieht. In vielen Studien um urbane Räume werden Migrantinnen oftmals gar nicht mitgenannt. Wir wissen aber aus verschiedenen Forschungsprojekten mit geflüchteten Frauen in den letzten Jahren, dass es hier erhebliche Unsicherheitsgefühle gibt. Und die fangen nicht erst im öffentlichen Raum, sondern bereits in den Asylunterkünften an. Dort gibt es häufig eine mangelnde Privatsphäre, Räume können nicht abgesperrt werden, sanitäre Einrichtungen sind einsehbar. Flüchtlingsheime befinden sich zudem oftmals in entlegenen Zonen, in der Peripherie, in Industriegeländen, im Wald. Da stellt sich die Frage, wie können Frauen sicher im Dunkeln den Weg in diese Unterkünfte antreten. Es wird wenig getan, um diese Unterkünfte für Frauen sicherer zu machen.
Wie könnte Stadtplanung konkret dazu beitragen, dass sich Menschen unabhängig von ihrer Herkunft sicher im urbanen Raum bewegen können?
Die Stadtplanung müsste damit anfangen, heterogene Bevölkerungsgruppen mit einzubeziehen. Und wenn sie diese nicht faktisch selbst einbeziehen kann, muss sie zumindest die Bedarfe von heterogenen Bevölkerungsgruppen mitdenken. Insbesondere in Ballungsräumen, wo sich soziale Probleme überlagern. Wo sich etwa Jugendliche aufhalten, ohne Geld, stigmatisiert, ausgegrenzt, ohne ausreichende Bildungschancen und Integration in Bildungssysteme. Dort gibt es eine Problemkonstellation, die sich im öffentlichen Raum zeigt. Das lässt sich jedoch nicht durch eine antimigrantische Rhetorik beheben. Und die CDU scheint nicht davon wegzukommen, zu glauben, mit dieser Rhetorik der AfD Stimmen abluchsen zu wollen. Dabei gibt es genügend Expertise, europaweit und global, die deutlich macht, dass diese Strategie nicht aufgeht. Sondern dass diese Strategie eher dazu führt, die Rechten und Rechtspopulisten hoffähiger zu machen und Ressentiments zu normalisieren. So wie diese Debatte gerade geführt wird, trägt sie zu einer Spaltung der Gesellschaft bei. Und sie führt zu weiteren Stigmatisierungen spezifischer Bevölkerungsgruppen.
Sabine Hess ist Professorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Seit 2018 ist sie geschäftsführende Direktorin des dortigen Center for Global Migration Studies.

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