"Das Verschwinden des Josef Mengele": Die Tränen des KZ-Arztes

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In "Das Verschwinden des Josef Mengele" begibt sich Regisseur Kirill Serebrennikow in den Kopf des Kriegsverbrechers. Entstanden ist ein Film ohne eigene Haltung.

22. Oktober 2025, 16:42 Uhr

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Mit Trenchcoat und Hut eilt Josef Mengele, gespielt von August Diehl, durch die Straßen von Buenos Aires. © Lupa Film

Erst im Jahr 1959 wurde gegen den Kriegsverbrecher und Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, Haftbefehl erlassen. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich in Buenos Aires auf. Aufgrund der beginnenden internationalen Suche tauchte er Anfang der 1960er-Jahre in Paraguay und später in Brasilien unter. Dort ertrank Mengele 1979 an der Küste vor São Paulo nach einem Schlaganfall beim Baden. Die 34 Jahre, die Mengele nach dem Ende des Nationalsozialismus lebte, hat der französische Schriftsteller und Journalist Olivier Guez mit Zeitzeugenaussagen, Gerichts- und Fahndungsakten in seinem 2017 erschienenen Roman Das Verschwinden des Dr. Mengele rekonstruiert. Schon zuvor hatte sich Guez mit deutschen Verbrechen und deutscher Verdrängung auseinandergesetzt, gemeinsam mit dem Regisseur Lars Kraume schrieb er das Drehbuch zu dessen Politdrama Der Staat gegen Fritz Bauer (2015) über den legendären Frankfurter Staatsanwalt und seine Rolle in den Auschwitzprozessen.

Nun hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikow Das Verschwinden des Dr. Mengele verfilmt, als Politthriller und Paranoia-Studie. Tiefenscharf sind die Schwarz-Weiß-Bilder seiner Leinwandadaption. Eine der ersten Szenen spielt 1956 in Buenos Aires. Mit Trenchcoat und ins Gesicht gezogenem Hut eilt Mengele, gespielt von August Diehl, durch belebte Straßen. Mehrmals wirft er den Blick zurück, steigt hektisch ins Taxi und lässt sich zum Flughafen bringen. Das Spiel mit Licht und Schatten und der untergründige Jazzsound verleihen Mengele eine Melancholie und Getriebenheit, er könnte auch eine Figur aus einem US-amerikanischen Film noir der 1940er-Jahre sein. In diesen Einstellungen wird aus konventionellen Erzählmustern eine Spannung aufgebaut. Die filmische Form drängt das Publikum auf Mengeles Seite. Obwohl klar ist, um wen es sich hier handelt und es Männer mit Kippa sind, vor denen Mengele flüchtet. 

Die Perspektive des Täters

Immer wieder nimmt Serebrennikow die Perspektive des Täters ein, auch erzählerisch. Er zeigt einen Mörder, der in allen Facetten und Tonlagen die Nazipropaganda wiederkäut, mal flüsternd, mal predigend, mal vor Wut schreiend. Finanziert von seiner Unternehmerfamilie in Deutschland, lässt Mengele mit Gleichgesinnten die Rassenlehre in Buenos Aires weiterleben. In einer prunkvollen Villa heiratet er auf Wunsch des Vaters (Burghart Klaußner) die Witwe seines verstorbenen Bruders, auf der Hochzeitstorte prangt ein Hakenkreuz. Später findet Mengele in Brasilien auf der abgelegenen Farm einer ungarischen Familie Unterschlupf, deren Schwarze Arbeiter bezeichnet er als "Halbaffen". Am Ende haust er in einer abgerissenen Bleibe in einem ärmeren Viertel von São Paulo, weiterhin bezeichnet er seine Taten an der Rampe des Konzentrationslagers als menschenfreundlichen Akt. Wechselnde Identitäten, neue Zufluchtsorte – mit Mengele springt die Handlung zwischen den Jahrzehnten hin und her. Je mehr die Zeit voranschreitet, desto klarer fühlt er sich als Opfer.

Die filmische Form drängt das Publikum auf Mengeles Seite. © Lupa Film

Das Verschwinden des Josef Mengele ist ein perfider Film, eine Zumutung für den Zuschauer – und eine Zumutung für seine Figur. Zu Beginn wird im Jahr 2023 an einer medizinischen Fakultät in Brasilien ein Skelett untersucht, Krankheiten und Verletzungen werden anhand von Veränderungen des Knochenbaus diagnostiziert. Es sind die sterblichen Überreste von Josef Mengele, wie der Professor den Studierenden erklärt. Der Mann, der in Auschwitz-Birkenau aus vermeintlich wissenschaftlichen Gründen Experimente an Häftlingen vollzog, ist nun selbst Untersuchungsobjekt. 

Im Alter wirkt Mengele haltlos und cholerisch

Man kann Serebrennikows Film ebenfalls als Experiment verstehen, als Versuch, einen Kriegsverbrecher vorzuführen und zu entblößen. Nach der Skelett-Szene sieht man den leibhaftigen Mengele nackt vor dem Spiegel stehen, mit Blicken seziert er seinen Körper auf medizinische Auffälligkeiten. Die Kamera zeigt auch seinen Penis, als wollte sie daran erinnern, dass der Täter eine Geschlechtlichkeit hat. Oder will sie provozieren? Auch August Diehl setzt in seiner Darstellung auf Effekte, er offenbart die nackte Wut eines Gedemütigten, brüllt die Verachtung für seine Umgebung (vor allem Frauen) heraus, wird zur Inkarnation eines allumfassenden Zynismus. Im Laufe der Jahre wirkt dieser Mengele – nun mit ergrauten Haaren und Schnauzbart – zunehmend haltlos und cholerisch. In Großaufnahme werden seine zittrigen Hände gezeigt, die er als Arzt zu mörderischen Zwecken einsetzte. Auch ein Kriegsverbrecher, das scheint uns der Film zu sagen, wird alt.

Im Laufe der Jahre ergraut Mengele und wirkt haltlos und cholerisch. © Lupa Film

Mit diffuser werdenden Schwarz-Weiß-Bildern passt sich Serebrennikows Ästhetik Josef Mengeles Paranoia an. Nachts erinnert die brasilianische Farm mit dem Stacheldrahtzaun an ein Lager. Auf einem Turm sucht Mengele mit der Taschenlampe das Gelände ab, nicht nach Geflohenen, sondern nach seinen Verfolgern. Der Film zelebriert solche Störfaktoren, die Mengele mit den Geistern seiner Vergangenheit konfrontieren. Auf seiner Hochzeit in Buenos Aires servieren zwei junge Zwillingsbrüder den Wein. "Zwillingsforschung" gehörte zu den Interessengebieten des KZ-Arztes.

Hilflose Originalitätsbekundungen

Mit solchen visuellen Widerhaken gelingt es dem Serebrennikow-Experiment jedoch nicht, einem Menschheitsverbrecher beizukommen. Sie sind eher hilflose Originalitätsbekundungen, Augenwischereien, die vor allem die Haltungslosigkeit des Films bekunden. Für Haltung ist dann Mengeles aus Deutschland angereister Sohn zuständig.

Rolf, der Sohn aus erster Ehe, reist mit falschen Papieren nach Brasilien. Er will wissen, was sein Vater in Auschwitz-Birkenau getan hat. Doch dieser schweigt. Es ist der Film, der ihm antworten wird. Die Bilder werden farbig, nehmen den Look eines 16-mm-Homevideos an. Ein Orchester mit Kleinwüchsigen ist zu sehen, ein lächelnder Josef Mengele selektiert die Menschen an der Rampe. Auch Untersuchungen im Labor werden gezeigt. Draußen scheint die Sonne, die Männer in Uniform wirken zufrieden und ausgeruht. Die quälend lange Sequenz wirkt wie ein monströses Urlaubsvideo. Man kapiert, es war Mengeles beste Zeit. Einmal sieht man ihn als weinendes Häuflein Elend, das seinen Schäferhund kuschelt. Fast hätte man Mitleid mit ihm.

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