„Da weiß man gar nicht, wohin mit seiner Wut“: Lychen geschockt über Abschiebung jesidischer Familie

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Es ist ein gewaltiger Schock für das kleine Lychen in der Uckermark. Am vergangenen Dienstag wurde eine seit drei Jahren dort lebende jesidische Familie plötzlich und ohne Vorwarnung in den Irak abgeschoben.

Die Familie war ausreisepflichtig, ihr Asylgesuch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen worden. Am Dienstag wehrte sich die Familie mit einem Eilantrag dagegen – und bekam Recht. Doch als das Verwaltungsgericht Potsdam seinen Beschluss fasste, saß die sechsköpfige Familie bereits im Flugzeug.

„Mein Sohn war gut mit Maatz befreundet. Der ist ein total lustiger, aufgeweckter Junge“, berichtet Tanja Niclas, die in Lychen wohnt, dem Tagesspiegel. Eine Tochter der nun abgeschobenen Familie habe letztes Jahr in ihrem Café gearbeitet. „Am Montag standen wir noch zusammen mit der Familie am Grill und haben den Abschluss der Grundschule gefeiert“, erzählt sie. „Und am nächsten Morgen sind sie einfach weg. Das ist für alle ein riesiger Schock, vor allem für die Kinder.“

Wir finden es sehr schade und sind auch besorgt, dass ihnen irgendwas passiert.

Emil Rietpitsch, ein Mitschüler von Maatz, fordert gegenüber dem RBB die Rückkehr der Familie.

Tanja Niclas reagierte schnell. Sie habe sofort die Presse verständigt, um auf den Fall aufmerksam zu machen, weil sie nicht wusste, ob die Familie das noch selbst geschafft habe, erzählt sie. „Am Mittwoch war der letzte Schultag der sechsten Klasse, der letzte Tag, bevor alle an die weiterführende Schule wechseln. Die Kinder hatten schon lange schulfrei, aber alle haben gewartet, bis das Kamerateam vom RBB da war.“

Brandenburgs Innenminister will den Fall zur Chefsache machen

Gemeinsam haben die Kinder einen Protestbrief an das Brandenburger Innenministerium geschrieben. Mehrere Mitschüler von Maatz haben außerdem eine Online-Petition gestartet, die fordert, die Familie zurückzuholen. „Wir finden es sehr schade und sind auch besorgt, dass ihnen irgendwas passiert“, sagte Emil Rietpitsch, der Initiator der Petition, dem RBB.

Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos, für SPD) will den Fall nun zur Chefsache machen. Sollte der Gerichtsentscheid des Verwaltungsgerichts Potsdam, wonach die Abschiebung illegal gewesen sei, im Hauptsacheverfahren Bestand haben, wolle er sich für eine Rückholung der Familie einsetzen.

„Angesichts der Verkettung der Umstände, des konkreten Schicksals der Familie und des Gebotes, Rechtskonformität herzustellen, habe ich die zuständigen Behörden in Brandenburg damit beauftragt in Abstimmung mit den Behörden des Bundes auf die zügige Rückholung der Familie hinzuwirken, sofern die gerichtliche Entscheidung Bestand hat“, sagte Wilke am Freitag.

Die brandenburgischen Behörden nahm er im Gespräch mit dem Tagesspiegel in Schutz. Sie seien von dem Eilantrag erst informiert worden, „als sich die Familie bereits im Flugzeug befand und die Maschine dabei war, zu starten.“

Die meinten einfach: ,Ihr werdet jetzt abgeschoben.’

Der zwölfjährige Maatz berichtet aus dem Irak über die traumatische Abschiebung seiner Familie.

Wie die Landesvorsitzende der Brandenburger Grünen Andrea Lübcke erklärte, sei das Gerichtsurteil, das die Abschiebung gestoppt hat, zum Zeitpunkt der Landung des Flugzeugs im Irak bekannt gewesen. Die Familie hätte auf jeden Fall wieder zurückgebracht werden müssen. Dazu komme, dass laut Aufenthaltsgesetz bei Familien mit minderjährigen Kindern die Abschiebung mindestens einen Monat vorher angekündigt werden müsse, wenn diese für mehr als ein Jahr geduldet seien.

„Die Behauptung, man habe von dem laufenden Verfahren nichts gewusst, ist angesichts der bereits seit Wochen bekannten Presseberichte schlicht unglaubwürdig“, so Lübcke. In der Vergangenheit wurden Brandenburger Ausländerbehörden ausdrücklich angewiesen, Rückführungen von Personen, die der Volks- oder Religionsgemeinschaft der Jesiden angehören, besonders sorgfältig zu prüfen. „Hier ist offenbar gravierend etwas schiefgelaufen“, so Lübcke.

Auch in Lychen ist die Empörung groß, dass die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet wurde. „Und dann hört man, dass genau in dem Moment, als sie im Flugzeug sitzen, die Ausreisepflicht vom Verwaltungsgericht in Potsdam aufgehoben wird. Das geht nicht! Da weiß man gar nicht, wohin mit seiner Wut!“, sagt Tanja Niclas.

Lychens Bürgermeisterin Karola Gundlach (parteilos) zeigte sich von den Ereignissen überrascht. Sie habe erst aus der Presse und durch die Schule von der Abschiebung erfahren. „Im Nachhinein frage ich mich schon: War das wirklich notwendig, wer hat hier falsche Entscheidungen getroffen?“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Die abgeschobene Familie meldete sich mittlerweile mit einer Videonachricht via RBB zu Wort. „Wir waren halt am Schlafen, auf einmal sind die einfach so reingekommen, haben ,Polizei!’ geschrien“, berichtet der zwölfjährige Maatz. „Dann waren wir sehr, sehr erschrocken. Wir wussten auch nicht, was los ist. Die meinten einfach: ,Ihr werdet jetzt abgeschoben.’“

Wie es mit der Familie in den nächsten Tagen weitergeht, ist unklar. Er habe Angst, sagte Maatz am Mittwoch in einer Sprachnachricht an Journalistinnen des RBB.

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