Comic-Kolumne: Wie Comics über private und globale Probleme erzählen

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Im Rahmen dessen, was man über Comics sagen kann, haben wir es bei den beiden Bänden, um die es hier gehen soll, mit bereits erfolgreichen Vertretern ihrer Gattung zu tun. „Überwindungen“ von Tara Booth ist in der amerikanischen Heimat der Autorin gefeiert worden – unter anderem stand der Band auf der Liste der besten Graphic Novels des Jahres 2024, die von der „New York Times“ erstellt wurde. Und der in Frankreich vor zwei Jahren erschienene Band „Les Pays d’Amir“, den Séverine Vidal geschrieben und Adrián Huelva gezeichnet hat, wurde im Wettbewerb „Francomics“, den das Institut français an deutschen Schulen ausschreibt, im Vorjahr unter drei Bewerbern zum Gewinner gekürt. Deshalb ist er jetzt auf Deutsch als „Amir und der Geschmack von Heimat“ im Avant-Verlag erschienen.

Natürlich besagen solche Nominierungen und Auszeichnungen noch nichts über den Verkaufserfolg. Aber die sechsunddreißigjährige Zeichnerin Tara Booth aus Philadelphia war mit ihren Comics bereits ein Instagram-Phänomen, bevor ihr Debütband „Processing“ (was weitaus besser als „Verarbeiten“ zu übersetzen gewesen wäre denn als „Überwindungen“) hundert dieser gezeichneten Insta-Stories versammelte. Dadurch wurde er weitaus stärker wahrgenommen, als es einem „normalen“ Band widerfahren wäre. Dass „Überwindungen“ keine Graphic Novel ist, sondern entstehungsbedingt eine Assemblage, die nur durch die immergleiche Hauptperson – Tara Booth selbst – der ein- bis zehnseitigen Episoden zusammengehalten wird, muss die „New York Times“ nicht kümmern. Längst ist ja alles „Graphic Novel“, was Laien für anspruchsvolle Comics halten. Sprich: was ihnen gefällt.

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausDie Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Mir gefällt „Überwindungen“ nicht. Wobei ich allemal anerkenne, dass die kunterbunt gehaltenen scheinnaiven Zeichnungen angesichts der meist nachtschwarzen und hochreflektierten Einstellung der Ich-Erzählerin Tara Booth zum eigenen „Leben und Überleben“ (so der Untertitel) großen graphischen Reiz haben. Es geht indes eher um Leben und Lieben, und wie Tara Booth aus den eigenen Verstörungen eine existenzielle Schilderung macht, das ist bisweilen sehr lustig, dann wieder sehr frivol, jedoch zu großen Teilen einfach nur banal. denn die meisten Probleme sind von einer Alltäglichkeit, dass ich mich schämen würde, sie öffentlich auszubreiten – nicht weil da häufig intimste Themen wie Sexualpraktiken oder Hygienepeinlichkeiten thematisiert werden, sondern weil all das mit dem Gestus von Lebensbewältigungsratgebern erfolgt, aber doch nur individuelle Empfindlichkeit dokumentiert.

Anknüpfung am Erfahrungshorizont des Publikums

Privatprobleme also, die aber offenbar eine große Welt interessieren, wie mehr als 100.000 Follower von Tara Booth auf Instagram belegen. Dass die Edition Moderne, die sich in den jüngerer Zeit von Avantgarde-Comics als Schwerpunkt auf Prätentions-Comics verlegt hat, damit mehr als einen Achtungserfolg in den Feminismus- und Queerness-Regalen der Großstadtbuchhandlungen erzielen wird (und in den Rezensionsspalten von Magazinen, die ebenso kunterbunt sind wie der Comic), ist zu erwarten. Das ist ja auch viel leichter lesbar und näher am eigenen Erfahrungshorizont einer westlichen Mitteklasse-Existenz als das Schicksal eines syrischen Bürgerkriegsflüchtlings wie Amir, dessen Geschichte im anderen Band erzählt wird.

Das Cover zu „Überwindungen“Das Cover zu „Überwindungen“Avant Verlag

Den ich aber auch nicht schätze, weil darin mit Klischees gearbeitet wird, die ich längst für diskreditiert hielt. Amir ist keine reale Person, sondern zusammengesetzt aus mehreren Gewährsleuten der 1969 geborenen Szenaristin Séverine Vidal, die bis vor anderthalb Jahrzehnten als Lehrerin gearbeitet hat, bevor sie sich entschloss, Schriftstellerin zu werden. Ihr Interesse gilt seitdem Jugendliteratur und auch Comics, die sie in Zusammenarbeit mit wechselnden Zeichnern erarbeitet hat (auf Deutsch sind beim Splitter Verlag schon mehrere solcher Publikationen von ihr erschienen). Für das „Amir“-Projekt hat sie in dem aus Spanien stammenden Mittdreißiger Adrián Huelva einen Mitstreiter gefunden, der seit einem Jahrzehnt so etwas wie ein Studioillustrator für Comicprojekte ist, die gefällig sein sollen. Einen eigenen Stil besitzt Huelva nicht. Für „Amir“ hat er sich an jener Zackenfigurenästhetik versucht, der auf frühe Arbeiten von Baru aus den Achtzigern zurückgeht und mit der von Paul Cauuet gezeichneten Erfolgsserie „Die alten Knacker“ zu einem prägenden Stil im frankobelgischen Raum geworden ist.

Wie vom Fernsehen loskommen? Eine Seite aus „Überwindungen“Wie vom Fernsehen loskommen? Eine Seite aus „Überwindungen“Avant Verlag

Kochrezepte als Erfolgsrezept

Gegen solches Adeptentum ist gar nichts zu sagen, aber was hier im buchstäblichen Sinne geschmäcklerisch daherkommt, ist die wohlfeile Übernahme der Masche von Büchern, deren Handlungen mittels Kochrezepten aufgemotzt werden. Amir wird nach einem Brand in seinem Asylantenheim von einer französischen Familie aufgenommen, die wie aus dem Bilderbuch konstruiert ist: Mutter, Vater, drei Kinder, der Großvater mütterlicherseits ein verstockter Rassist, der ein gutbürgerliches Lokal betreibt, in dem seine alleinstehende vollkörpertätowierte jüngere Tochter arbeitet, die sich nicht nur in den attraktiven Amir verliebt, sondern ihn auch als Aushilfe in der Küche des Restaurants anheuert – womit natürlich sofort ein Riesenerfolg bei den meisten Gästen einsetzt.

Das Titelbild zu „Amir und der Geschmack von Heimat“Das Titelbild zu „Amir und der Geschmack von Heimat“Edition Moderne

Jeweils doppelseitig sind im Buch Rezepte zu syrischen Leckereien integriert, die biographisch mit der Kindheit des Flüchtlings verbunden werden, die sich in Aleppo abspielte – und dementsprechend kriegsbeeinträchtigt war. Bilder für seine traumatischen Erlebnisse aber muss Huelva nicht finden. Die Rezepte enthalten neben den gezeichneten Speisen nur Textpassagen. Resultat: ein Comic, der sich etwaigen Verstörungspotentials enthält und damit schön zugänglich für die sensiblen Gemüter der Wohlstands- und Wohlfühlgesellschaft ist.

Reduktion aufs Klischee

Die Darstellung Amirs befriedigt denn auch alle paternalistischen Gefühle, die wir ach so wohlmeinenden und kosmopolitischen Westeuropäer haben können. Gut, der Band ist ja auch für Jugendliche gedacht, aber muss man es denen so simpel machen mit der Schwarz-Weiß-Malerei von Figuren und Lebensschicksalen? Der von Schülern zuerkannte Preis scheint leider dafür zu sprechen, allerdings weiß ich nicht, wie die beiden anderen französischen Comics, die auch im Rennen um die Auszeichnung waren, aussehen. Manchmal ist ja der Einäugige König, wenn der Rest blind ist.

Seite 34 aus „Amir und der Geschmack von Heimat“Seite 34 aus „Amir und der Geschmack von Heimat“Edition Moderne

Der deutsche Titel verstärkt die Gefälligkeit noch, indem er das Leitthema der Heimatlosigkeit, das im Originaltitel „Les Pays d’Amir“ anklingt, durch „der Geschmack von Heimat“ geradezu konterkariert. Amir wird dadurch rein auf die syrische Herkunft reduziert, während die durch die familiäre Zuneigung gewonnene Sympathie für seine nunmehrige zweite, französische Heimat (von einer dritten Option in Spanien ganz zu schweigen) ausgeblendet bleibt. Als wollte das Buch mit der deutschen Bezeichnung nur ja nicht das Gefühl aufkommen lassen, hier bei uns könnte sich jemand wie Amir heimisch fühlen und dann etwa bleiben. Obwohl just diese Möglichkeit (aber eben nicht mehr als die) zum Schluss der Erzählung angedeutet wird.

Natürlich ist das von der Übersetzerin Karen Bo und dem Avant-Verlag nicht so gemeint, aber die Sorglosigkeit (oder wohl eher: Marketingtauglichkeit) des deutschen Titels ist bezeichnend für ein Wohlfühlprodukt, das eines der weltweit größten Probleme behandelt, als könnte es mit nur etwas Benevolenz und erotischer Attraktivität gelöst werden – als handelte es sich bei jungen Flüchtlingen um so etwas wie Callboys. Darin übrigens, in der Fixierung auf Sexualität als Therapieoption, treffen sich die beiden hier gegeneinandergesetzten Comics.

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