Coco Gauff schlägt Aryna Sabalenka im Finale der French Open: Heavy-Metal-Tennis

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Szene des Match: Ohne die sportlichen Höhepunkte vernachlässigen zu wollen, muss es der Moment sein, als Coco Gauff ins rote Ziegelmehl des Court Philippe Chatrier sank. 2:38 Stunden hatte die US-Amerikanerin gegen Aryna Sabalenka dagegengehalten, hatte um jeden Ball gekämpft und sich auch von Rückschlägen nicht aus der Fassung bringen lassen. Die 21-Jährige hatte es geschafft: Sie holte in Paris ihren zweiten Titel Grand-Slam-Titel.

Das Ergebnis: 6:7 (5:7),6:2,6:4 gewinnt Gauff (USA) gegen Sabalenka (Belarus). Hier geht’s zur Meldung.

 Zweiter großer Titel nach den US Open 2023

Coco Gauff: Zweiter großer Titel nach den US Open 2023

Foto: Yoan Valat / EPA

Die Spielerinnen: Die Nummer eins der Welt, Sabalenka, gegen die Nummer zwei. Schon nominell also war es das zwangsläufige Finale. Gauff hatte zuvor bei den US Open 2023 gewonnen, Sabalenka steht bei drei Titeln bei den größten Turnieren. Ihren jüngsten Erfolg hatte sie bei den US Open im vergangenen Jahr gefeiert, hinzu kommen zwei Siege bei den Australian Open. Sand zählen beide eigentlich nicht zu ihrem Lieblingsbelag. Fürs Finale hat es trotzdem gereicht.

Die Erwartung: Coco Gauff wusste, was ihr bevorstehen würde. Eine Auswertung bei den US Open im vergangenen Jahr hatte ergeben, dass Sabalenka ihre Vorhand im Schnitt mit 128,75 Kilometern pro Stunde geschlagen hatte. Damit lag sie nicht nur bei den Frauen an der Spitze – sondern hatte auch die Männer überholt. Carlos Alcaraz lag mit 127,14 Kilometer pro Stunde auf Platz zwei vor Jannik Sinner (125,53). Gauff hatte nach ihrem Halbfinale gegen die Französin Loïs Boisson hatte sie gesagt: »Sie hat gewaltige Schläge, sie wird aggressiv loslegen. Damit muss ich einfach rechnen und mein Bestes tun, um dagegenzuhalten.« Die vielleicht beste Konterspielerin der Welt gegen die Spielerin mit den härtesten Schlägen: Beste Zutaten für ein interessantes Match.

 199 Kilometer pro Stunde in der Spitze

Gauff beim Aufschlag: 199 Kilometer pro Stunde in der Spitze

Foto: Teresa Suarez / EPA

Der erste Satz (Teil 1): Es war schließlich ein Satz, der alles bot, was die beiden Spielerinnen ausmacht – und eigentlich den ganzen Tennissport. Diese 80 Minuten allein wären das Eintrittsgeld wert gewesen. Zunächst kam es genau so, wie Gauff gesagt hatte: Sabalenka schaffte es von Beginn an, ihre ganze Wucht zu entfalten. Gauff hingegen konnte nicht ganz das umsetzen, was sie sich vorgenommen hatte. So kraftvoll kamen die Bälle von ihrer Gegnerin, dass die US-Amerikanerin immer wieder die Kontrolle bei ihren Schlägen verlor und Fehler machte. Bis zum Stand von 4:1 und 40:0 rauschte die Belarussin durch den ersten Satz, doch Gauff bewies Kampfgeist, machte neun Punkte in Folge und kam auf 3:4 heran. Das Publikum war begeistert, dass der Satz doch noch Dramatik entwickelte. Kein Wunder, bei Eintrittspreisen ab 350 Euro aufwärts.

 Höhen und Tiefen

Sabalenka: Höhen und Tiefen

Foto: Yoan Valat / EPA

»Furchtbare Bedingungen«: Als Sabalenka später gefrustet auf der Pressekonferenz saß, ging sie hart mit sich ins Gericht. Sie habe es nicht geschafft, mit den Windböen umzugehen, die immer wieder über Platz fegten. Ein »schlechter Witz« seien die Bedingungen gewesen. Die Schuld aber suchte sie bei sich selbst. Stets sei sie zu spät am Ball gewesen und habe es nicht geschafft, sich auf die Umstände einzustellen. Wenn sie das geschafft hätte, hätte sie triumphiert, war sich Sabalenka sicher. »Aber Coco hat das besser gemacht als ich, deshalb hat sie gewonnen«.

Der erste Satz (Teil 2): So schnell kann es gehen im Tennis. Eben sah Sabalenka nach der sicheren Gewinnerin des ersten Satzes aus, dann gelang Gauff plötzlich fast alles, Sabalenka hingegen machte teils kuriose Fehler. Beim Stand von 4:3 und 40:40 dominierte sie einen Grundlinienballwechsel, trieb Gauff mit einer Rückhand cross aus dem Feld und rückte ans Netz nach. Gauff schafft es gerade noch, den Ball zurückzulöffeln, ein kraftloser, hoher Schlag. Doch Sabalenka ließ den Ball passieren, in der Annahme, er ginge ins Aus. Stattdessen plumpste er einen guten halben Meter vor der Linie ins Feld. Sabalenka blickte fassungslos in den wolkigen Pariser Himmel: Wie konnte das nur passieren?

Der erste Satz (Teil 3): So ähnlich ging es nun weiter, das Spiel hatte sein Narrativ gefunden: Es war wild. Jürgen Klopp prägte mal die Bezeichnung »Heavy-Metal-Fußball« für seinen Stil mit Borussia Dortmund. Das, was Sabalenka und Gauff nach der Aufwärmphase zeigten, war Heavy-Metal-Tennis. Nicht jeder Ton saß, auch wegen des Winds kam es zu kuriosen Fehlschlägen, aber es war mitreißend. Sabalenka gab das Tempo vor, machte abwechselnd direkte Gewinnschläge oder absurde Fehler. Gauff lief und ackerte und ließ mit ihren Rettungsschlägen das Pariser Publikum immer wieder aufspringen vor Begeisterung. Es ging in den Tiebreak.

Das Motto zum Match: Aryna Sabalenka beim Tennisspielen zuzuschauen, ist ein Erlebnis. Wegen ihres Könnens, der Wucht, dem Ballgefühl. Aber vor allem auch, weil sie ihre Emotionen so deutlich zeigt und das Publikum teilhaben lässt an den Höhen und Tiefen, durch die sie immer wieder während ihrer Matches geht. Auch wenn sie später sagte, sie müsse sich besser im Griff haben – für das Publikum ist es ein faszinierender Einblick. Gegen Gauff wirbelte sie mit den Armen durch die Luft, rollte mit den Augen. Gut möglich, dass ihre Augen, als sie sich mal wieder Hilfe suchend im Stadion Philippe Chatrier umblickte, am Rand des oberen Rangs hängenblieben. Dort steht auf Englisch und Französisch ein Spruch, der Napoleon Bonaparte zugeschrieben wird: »Der Sieg gehört der Hartnäckigsten.« Für beide Spielerinnen hätte man ihn in Satz eins bemühen können, den Durchgang gewann am Ende Sabalenka 7:6 (7:5).

Der zweite Satz: Eine Frage, die sich im Verlaufe des Matchs mal wieder aufdrängte, lautet: Ist Coco Gauff die reifste 21-Jährige der Welt? Die US-Amerikanerin spielt auf der Profitour, seitdem sie 14 Jahre alt ist. Neun Turniere hat sie schon gewonnen, einen Grand-Slam-Titel, sie liest 25 Bücher im Jahr und sagt mit beeindruckender Regelmäßigkeit schlaue Sätze. Auf die Frage, wie sie mit dem Druck des Finales umgehen werde, antwortete sie in Paris: »Indem ich mir klarmache, dass so viele Menschen weitaus schwierigere Dingen zu kämpfen haben. Und indem ich mir klarmache, wie viele Spielerinnen gerne mit mir tauschen und in diesem Finale stehen würden.« Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, der zweite Satz: Gauff ließ sich vom Drama zuvor nicht aus der Fassung bringen, zwang Sabalenka zu längeren Ballwechseln und ließ sie die Fehler machen. Nach 33 Minuten stand es 6:2 für Gauff.

Die unfairste Statistik / der dritte Satz: Es gibt im Tennis den Begriff des »Unforced Errors«, des Fehlers ohne Not, bei dem der Punkt laut Definition nur deswegen an die Gegnerin ging, weil man selbst ohne Druck ins Netz oder ins Aus geschlagen hat. Als Hobbyspieler muss man zugeben: Das kommt vor. Im Profitennis, erst recht bei einem Grand-Slam-Finale? Eher nicht. Dort entsteht fast jeder Fehler unter Druck. Falls jemand, der das Spiel nicht gesehen hat, auf die Idee kommt, sich anhand der Statistik einen Verlauf des Matchs zusammenzureimen, muss den Eindruck erlangen, dort hätten zwei Spielerinnen auf Anfängerniveau die Bälle ins Aus gestümpert. Das aber würde diesem Finale nicht gerecht werden. Und doch kann man aus der Fehlerstatistik erkennen, was am Samstag den Unterschied machte. 70 »Unforced Errors« auf Seiten von Sabalenka sind tatsächlich viel zu viel, um ein Grand-Slam-Finale zu gewinnen. Gauff machte 30 solcher Fehler, nach 15 im ersten Satz waren es 9 im zweiten und 6 im dritten (Sabalenka: 32/19/19). Gauff wurde also sicherer und sicherer, je weiter das Match fortschritt. 6:4 gewann sie den entscheidenden Durchgang.

 Court Philippe Chatrier statt Madison Square Garden

Spike Lee und Gauff: Court Philippe Chatrier statt Madison Square Garden

Foto: Gonzalo Fuentes / REUTERS

Gutes Näschen: Spike Lee hat turbulente Wochen hinter sich. Der 68-Jährige ist seit Jahrzehnten Hardcore-Fan des Basketballteams New York Knicks. Die schon notorisch erfolglosen Knicks hatten es in diesem Jahr so weit geschafft, wie ewig nicht. Erst in den Conference Finals hatten sie gegen die Indiana Pacers verloren. Lee schien Gauff mehr zuzutrauen als seinen Knicks. Der Regisseur ist schon lange ein Bewunderer, in Paris war er, in weißer Trainingsjacke, Baseballcap und seiner typischen Brille, einer der ersten Gratulanten.

Gauffs Fazit: »Ich habe einiges durchgemacht, nachdem ich hier vor drei Jahren verloren habe (3:6,1:6 gegen Iga Świątek, Anm. der Red.). Mein erster Grand-Slam-Titel hat sich vielleicht noch etwas emotionaler angefühlt, aber ich bin sehr froh, dass ich es jetzt geschafft habe. Heute war wegen der vielleicht Bedingungen vielleicht kein guter Tag für Tennis, aber so ist es nun mal, wenn man draußen spielt. Vor allem in Paris.«

Sabalenkas Fazit: »Das war das schlechteste Tennis, das ich in den letzten Monaten gespielt habe. Ich glaube, das war mein schlechtestes Finale überhaupt. Ich muss das, was heute passiert ist, mit etwas Abstand betrachten und meine Schlüsse daraus ziehen. Aber erstmal fliege ich nach Mykonos, der Flug ist schon gebucht. Darauf freue ich mich, und auf Tequila und Gummibärchen.«

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