Bundespräsident in Israel: Das Leid im Kibbuz, das Leid in Gaza

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Jetzt sind sie also noch einmal in den Kibbuz gekommen. Im November 2023, wenige Wochen nach dem Massaker der Hamas, waren der Bundespräsident und sein israelischer Kollege schon einmal da. Damals konnte man noch Spuren des Grauens sehen, blutverschmierte Kinderkleidung, verbrannte Häuser. Im Kibbuz Beeri haben die Hamas-Terroristen mehr als 130 Menschen ermordet, mehr als 50 haben sie entführt. Jetzt strahlt die Sonne, die Vögel zwitschern. An das schreckliche Massaker erinnern auf den ersten Blick nur noch die vielen Bilder der Opfer und der Geiseln, die überall hängen.

In dem Kibbuz wohnen nicht einmal mehr hundert der einst über tausend Bewohner. Die Aufmerksamkeit hat sich verlagert. Auf den Gazastreifen, der nur wenige Kilometer von dem Kibbuz entfernt ist und in dem wegen des harten Vorgehens der israelischen Armee schreckliches Leid unter der Zivilbevölkerung herrscht.

Sechs der aus dem Kibbuz Entführten sind noch nicht zurück. Sie sind alle tot

Frank-Walter Steinmeier und Israels Präsident Isaac Herzog wollen im Kibbuz Beeri zeigen, dass sie die Opfer des Hamas-Massakers nicht vergessen. Bewohner erzählen am Mittwoch, dass ihr Leben erst wieder beginnen könne, wenn alle Geiseln, die Lebenden und die Toten, aus dem Gazastreifen zurück seien. In der Kantine des Kibbuz steht ein gedeckter Tisch mit sechs freien Plätzen. Er erinnert an die sechs aus dem Kibbuz Verschleppten, die noch nicht zurück sind. „Bring Them Home Now“, steht auf einem Schild.

Alle sechs sind tot. Aber ohne die Rückkehr ihrer Leichen könne im Kibbuz keine Ruhe einkehren, sagt eine Bewohnerin. Sie ist 45 Jahre alt. Sie hat vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne. Sie hat mehrere Verwandte beim Massaker der Hamas verloren. Und sie hat eine Schwester in Kanada, zu der die Familie ziehen könnte. Aber ihre Kinder und sie möchten weiter in Beeri leben.

Bei seinem Besuch vor eineinhalb Jahren hatte Steinmeier auch Hilfe für den Wiederaufbau des Kibbuz zugesagt. Die Deutschen finanzieren den Bau eines Kultur- und Gemeinschaftszentrums. Es soll auch eine Art Verbindung zwischen dem alten Beeri und den neuen Häusern darstellen, die gerade errichtet werden. Der Architekturwettbewerb für das Zentrum ist inzwischen entschieden, bis Ende kommenden Jahres soll das Gebäude fertig sein. Sieben Millionen Euro hat Deutschland dafür bereitgestellt.

„Deutschland vergisst sie nicht, ich vergesse sie nicht“, sagt der Bundespräsident über die Geiseln

Sein Besuch nach dem Hamas-Massaker habe sich bei ihm tief eingeprägt, sagt Steinmeier jetzt in Beeri. „Häuser, die nur noch Ruinen waren, verbrannte Bäume, verstreut umherliegende Alltagsgegenstände, Spielzeug“, das Grauen sei einem durch Mark und Bein gegangen. Damals sei aber auch schon etwas anderes zu spüren gewesen, nämlich der Wille der Bewohner, nicht aufzugeben – der Wille, wieder aufzubauen. Er hätte sich gewünscht, dass man jetzt schon weiter sei, sagt der Bundespräsident. Dass der Krieg beendet sei, alle Geiseln zurückgekehrt wären und dass alle Bewohner von Beeri wieder in ihrem Zuhause leben könnten.

Am Dienstagnachmittag traf sich Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem mit Israels Premier Benjamin Netanjahu (rechts).
Am Dienstagnachmittag traf sich Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem mit Israels Premier Benjamin Netanjahu (rechts). (Foto: Bernd von Jutrczenka/DPA)

Steinmeier gibt ein Versprechen ab. Dass 585 Tage nach dem Massaker immer noch Geiseln in der Gewalt der Hamas seien, sei eine offene Wunde, „Deutschland vergisst sie nicht, ich vergesse sie nicht – unsere Stimme wird nicht schweigen, solange sie nicht zurückgekehrt sind“. Der Bundespräsident erinnert dann jedoch auch auf das nur wenige Kilometer entfernte Leid im Gazastreifen. „Auch dort leiden Unschuldige, auch dort sterben Kinder.“ Gewalt, Terrorismus und Zerstörung dürften aber niemals das letzte Wort behalten. „Unsere Menschlichkeit muss stärker sein.“

Am Dienstagnachmittag, Steinmeier war da schon in Israel, hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine neue Offensive zur Zerschlagung der islamistischen Hamas im Gazastreifen angekündigt. „In den kommenden Tagen werden wir mit voller Kraft hineingehen, um die Kampagne zu vollenden“, sagte Netanjahu. Man werde in dem Krieg „bis zum Ende“ gehen.

Israel müsse sofort wieder Hilfslieferungen durchlassen

Am Abend hatte Steinmeier Netanjahu dann in dessen Amtssitz in Jerusalem getroffen. „In meinem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Israels habe ich betont, dass die Befreiung der Geiseln oberste Priorität haben muss“, sagt Steinmeier am Mittwoch. „Außerdem habe ich vor dem Besuch von US-Präsident Trump in Doha dem Emir von Katar einen Brief geschrieben, um ihn zu bitten, die Bemühungen um die Freilassung der Geiseln noch einmal zu verstärken.“

Doch bei dem Gespräch mit Netanjahu ging es um mehr als die Geiseln. Steinmeier habe „die dringende Notwendigkeit“ betont, „politische Perspektiven zur Beendigung des Krieges aufzuzeigen – insbesondere im Dialog mit den arabischen Staaten“, sagt die Sprecherin des Bundespräsidenten. Und er habe „die Dringlichkeit“ betont, den Zugang der Bevölkerung in Gaza zu humanitären Hilfen wieder zu gewährleisten. Steinmeier ist der Ansicht, dass die israelische Blockade von Hilfsgütern in den Gazastreifen „nicht irgendwann, sondern jetzt“ aufgehoben werden müsse.

Nach dem Gespräch mit Netanjahu ist der Bundespräsident ins King-David-Hotel gefahren, sein Quartier bei seinem zweitägigen Israel-Besuch. Und dort hat er dann erleben können, was derzeit in Israel Alltag ist. Um kurz vor halb acht ertönte draußen auf einmal Raketenalarm. Und drinnen im Hotel begannen die Durchsagen. Man möge sich doch in den Schutzraum begeben. Dort traf man dann auf Steinmeier, seine Frau und viele andere. Nach zehn Minuten war alles vorbei. Man habe eine in Jemen abgefeuerte Rakete erfolgreich abfangen können, teilte die israelische Armee später mit. Beim Frühstück am Mittwochmorgen gab es dann den nächsten Raketenalarm. Aufgeregt war niemand – es ist ja eben leider Alltag in Israel.

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