Brief aus Istanbul von Bülent Mumay: Erdoğan gibt Imamen „katholische“ Befugnisse

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„Jede Seele wird den Tod erleiden.“ Wenn Sie diese Koranzeile in riesigen Lettern an einer der Hauptstraßen Istanbuls lesen, erschrecken Sie womöglich ebenso wie wir, als wir den Schriftzug entdeckten. Das Schild war 2003, als Erdoğan Premierminister wurde, am Eingang zu dem Friedhof aufgehängt worden, der an dieser stark befahrenen Straße liegt. Wir Istanbuler haben uns im Laufe der Zeit an das Koranzitat an der Straße gewöhnt. Allerdings ist da noch etwas, das jede Seele, insbesondere jene, die der Regierung gegenüber kritisch eingestellt sind, erleiden wird, seit Erdoğan an der Macht ist: Strafverfahren.

Um vor Gericht gestellt zu werden, genügt es, irgendeine Kleinigkeit zu tun, die der Regierung missfällt. Ob Sie als Journalist einen Bericht schreiben oder als Bürger an einer Protestkundgebung teilnehmen, unsere Justiz findet eine geeignete Strafe für Sie. Bisher verhinderte ein Vollstreckungsgesetz, dass Personen, die wegen solcher „Straftaten“ verurteilt wurden, ins Gefängnis kommen. Die erste Haftstrafe konnte zur Bewährung ausgesetzt werden, bei Haftstrafen unter zwei Jahren musste man nicht ins Gefängnis. Diese Regelung hat das Palastregime kürzlich abgeschafft. Jetzt muss man auch ins Gefängnis, wenn man zu weniger als zwei Jahren Haft verurteilt wurde – wie ich beispielsweise, dem letztes Jahr zwanzig Monate aufgebrummt wurden – und sei es für einige wenige Monate. Sie sehen: „Jede Seele wird die Haft erleiden.“

Bülent MumayBülent Mumayprivat

Der Zeitpunkt dieser jüngsten Regierungsinitiative ist kein Zufall. Es geht darum, den Protest der Zivilgesellschaft zu unterdrücken, der lauter wurde, seit Erdoğan am 19. März seinen wichtigsten Herausforderer Ekrem Imamoğlu hatte verhaften lassen. Sich seiner grundlegenden demokratischen Rechte zu bedienen, wird kriminalisiert, die Atmosphäre der Angst soll weiter verschärft werden. Glauben Sie nicht, ich brächte hier eine unnötige Sorge zum Ausdruck, die AKP-Justiz verunsichere bloß Journalisten und Aktivisten. Einer der großen türkischen Theatermenschen, der 97 Jahre alte Schauspieler und Regisseur Haldun Dormen, antwortete letzte Woche in einem Interview auf die Frage, was seines Erachtens das größte Problem des Landes sei: „Wenn ich das sage, stecken die mich ins Gefängnis.“

Einer der wichtigsten Apparate des Staates

Mit diesen Worten brachte Dormen, der jüngst sein fünfundsiebzigjähriges Bühnenjubiläum feierte, natürlich doch zum Ausdruck, was beziehungsweise wer das größte Problem im Land ist. Das Rechtswesen, auf dessen Drahtzieher Dormen indirekt verwies, hält Dissidenten entweder im Gefängnis fest oder schränkt ihren Aktionsradius mit gerichtlichen Auflagen ein. Sie müssen dann ein paar Mal in der Woche bei der Polizei vorstellig werden. Sie dürfen die Stadt nicht verlassen und nicht ins Ausland reisen, weil ihnen der Pass entzogen wird. Nun denken Sie aber nicht, diese Sanktionen träfen alle Straftäter gleichermaßen. Wurde jemand zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er als Anführer einer terroristischen Vereinigung elf Menschen umgebracht hat, kann ein anderes Recht zur Anwendung kommen. Das vom höchsten Gericht bestätigte Urteil kann aufgehoben werden, für den weiteren Prozessverlauf kann der Betreffende auf freien Fuß gesetzt werden, das Ausreiseverbot kann im Handumdrehen aufgehoben werden, damit er die Pilgerfahrt antreten kann.

Bild: Emir Özmen, Bearbeitung F.A.Z.

Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in seinem „Brief aus Istanbul“ über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.

Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne ist bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.

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Nehmen wir an, Sie sind Universitätsdozent und wurden mit einem Federstrich Erdoğans entlassen, weil Sie eine Petition für Frieden unterzeichnet haben. Genau wie etliche Hundert andere Wissenschaftlerinnen und Dozenten. Sie wurden dann aber von sämtlichen Terrorismusvorwürfen freigesprochen. Sie strengen einen Prozess an, um an die Universität zurückzukehren. Was haben Sie davon? Eine ungeheure Enttäuschung. Hätten Sie dagegen eine weitaus schlimmere Straftat begangen wie der Hizbullah-Mann, dessen Fall ich oben schilderte, wären Sie längst wieder in Amt und Würden. Wie ein Beamter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, der wegen sexuellen Missbrauchs eines zwölfjährigen Mädchens verhaftet worden war, nach 69 Tagen aber frei kam und unverzüglich wieder im Dienst war. Die Unterzeichnenden der Friedenspetition hingegen können seit 2016 nicht an ihre Arbeit zurück.

Es gibt natürlich einen Grund für diesen Widerspruch beziehungsweise dieses Privileg: Religion ist während der über zwanzigjährigen Regierungszeit Erdoğans nicht bloß zu einem Ins­trument geworden, um Wählerstimmen zu gewinnen und politische Sünden zu kaschieren. Vor allem wurde sie ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gesetzt. Und dabei übernahm Diyanet eine Führungsrolle. 1924 hatte Atatürk das Amt mit der Funktion gegründet, die religiösen Dienstleistungen der säkularen Republik zu regeln und zu kontrollieren. Diese Funktion übte Diyanet auch viele Jahre lang aus. Es ließ Moscheen bauen und zahlte den Imamen ihr Gehalt aus, über diese Hauptaufgaben hinaus hatte es keine Verpflichtungen. Unter dem Palastregime aber wurde die Diyanet-Behörde zu einem der wichtigsten Apparate des Staates umgemodelt. Ihr Budget wurde aufgestockt, sodass es nun höher ist als das vieler Ministerien. Um das Bildungswesen religiös auszurichten, wurde ihm Zugang zu den Schulen gewährt. Inzwischen hat es auch die Aufgabe, Bereiche wie das soziale Leben und Familienpolitik zu regeln.

Ein Albtraum für den Palast

Diyanet hat erheblichen Anteil an der zunehmend konservativen Prägung der Gesellschaft und greift in die Politik ein. Die Freitagspredigten beinhalten politische Botschaften zugunsten der Regierung. Der Vorsitzende der Behörde, deren Wirkungsbereich laufend ausgedehnt wird, eröffnet mittlerweile sämtliche Zeremonien und Feiern Erdoğans mit Gebeten. Diesen Monat kam eine weitere Befugnis hinzu. Das von Erdoğan kontrollierte Diyanet soll nun mit dem Koran tun, was die katholische Kirche im 16. Jahrhundert mit der von Martin Luther ins Deutsche übersetzten Bibel tat. Fünf Jahrhunderte nach dem, was Luther widerfuhr, gestattet ein soeben vom Parlament verabschiedetes Gesetz Diyanet, Koran-Ausgaben zu beschlagnahmen und zu vernichten, deren Übersetzung oder Auslegung nicht seiner Auffassung entsprechen.

Die katholische Kirche konnte weder die Reformation aufhalten noch die Ausbreitung des Protestantismus. Ebenso wenig wird Erdoğans Umbau der Gesellschaft im Sinne einer einheitlichen Religionsauffassung über Diyanet und damit das Bestreben, seine Amtszeit zu verlängern, fruchten. Denn Religion macht nach wie vor niemanden satt. Offiziellen Angaben eines Erdoğan unterstellten Ministeriums zufolge riefen innerhalb von vier Jahren 34 Millionen Menschen bei der Sozialhilfe-Hotline an. Die Türkei hat 85 Millionen Einwohner. Das bedeutet, zwei von fünf Personen brauchen Hilfe, um genug zu essen zu bekommen. Als diese Daten veröffentlicht wurden, verbrachte Erdoğan gerade die Opferfest-Feiertage in seiner Sommerresidenz, die er für umgerechnet 35 Millionen Euro unserer Steuergelder hatte errichten lassen. Die Schuhe, die er unter seinem neuen Sommeranzug trug, glichen denen einer italienischen Marke aus Krokodilleder, die 5550 Euro kosten. Als sich darüber Unmut in der Öffentlichkeit regte, bekundete der Palast, es handele sich nicht um importierte Schuhe, sondern um einheimische. Die Marke aber wurde aus unerfindlichen Gründen nicht genannt. Bei keiner einheimischen Schuhmanufaktur findet sich Vergleichbares.

Was mag angesichts dieser Lage wohl die Umfrage „Was würde Erdoğans Wiederwahl für die Türkei bedeuten?“ ergeben? Einen Albtraum für den Palast. 70 Prozent der Befragten meinen, Erdoğans Wiederwahl wäre schlecht für die Türkei. Es sieht nicht danach aus, dass dieses Bild sich noch ändern könnte. Es zeigt, dass, ebenso wie „jede Seele den Tod erleiden“ wird, jede Regierung eines Tages an die Opposition übergehen kann. Gibt es Wahlen, dürften wir diesmal eher nicht das Gefängnis erleiden, sondern die Freiheit kosten.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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