Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist nicht der „erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“. Beschämenderweise muss man das häufig betonen. Allzu oft werden die Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 2001 nämlich vergessen. Die schwedische Serie „Ein halbes Jahr wie ein ganzes Leben“, die frei auf den Erinnerungen des Blauhelm-Soldaten Magnus Ernström basiert, will das ändern.
Sie ist weder das nächste Serienwunder aus Skandinavien noch so bewegend, wie es 2021 Jasmila Žbanićs preisgekrönter Spielfilm „Quo vadis, Aida?“ über das Massaker in Srebenica gewesen ist. Doch es läuft einem kalt den Rücken herunter: Militärs überall, Angst überall, Leichen auf den Straßen, ausgebrannte Häuser, sexuelle Gewalt. Und zwischendrin Blauhelme, die alles sehen und neue Gewaltausbrüche nicht verhindern können.
Wer hier gegen wen kämpft und wie die Blauhelme in die Region kamen – das erklärt das Drehbuch von Mona Masri und Oliver Dixon über Erklärsätze und Einblendungen. Der kernige Vorgesetzte der Schweden, Oberst Andreasson (Johan Rheborg), beschreibt die Rolle der Skandinavier folgendermaßen: „Als UN-Soldaten haben wir keine Feinde. Egal ob Serben, Kroaten oder Muslime: Sie alle sind nur Parteien, sonst nichts.“ Die Aufgabe bestehe zum Beispiel darin, Konvois mit Hilfsgütern zu Zivilisten zu bringen.
Ein Kamerad stirbt, die Nerven flattern
Für die jungen Leute, denen die Serie folgt, die Soldaten Forss (Maxwell Cunningham), Kilpinen (Erik Enge), Babic (Toni Prince) und Strand (Edvin Ryding), klingt das bei der Ankunft in „Camp Valhalla“ machbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was in den kommenden Monaten auf sie zukommen wird, die Unannehmlichkeiten beschränken sich vorerst auf schlechtes Kantinenessen und eine Kläranlage, die im Camp Valhalla vor sich hinblubbert. Dann geraten sie auf einer Landstraße unter Beschuss, und ein Kamerad stirbt. Die Nerven flattern.
Parallel beginnen drei Geschichten von Menschen aus der Region. Wir sehen einen jungen Muslim namens Eldin (Lazar Dragojevic), der Asthma-Spray für seine Tochter Lana (Eva Porobić) zu organisieren versucht; die Gastwirtin Nevena (Alena Dzebo), die für die Blauhelme dolmetscht; und die liebliche Alma (Teodora Dragicevic), die im Camp arbeitet und lange Blicke mit einem der Skandinavier wechselt. Eine Liebesgeschichte zeichnet sich ab. Diese kleinen Geschichten gehören nicht unbedingt zu den Stärken von „A Life’s Worth“. Aber sie funktionieren und wirken genauso authentisch (Regie: Ahmed Abdullahi) wie jene der unerfahrenen, bald innerlich zerschlissenen Serienhelden. Mehrgleisig bewegen wir uns auf die Ereignisse von Stupni Do zu.
Das Massaker, das Soldaten des „Kroatischen Verteidigungsrats“ HVO dort am 23. Oktober 1993 verübten, wird von der Serie dankenswerterweise nicht nachgestellt. Es kündigt sich jedoch an: durch Rauchschwaden und Militärs, die die weiß lackierten Fahrzeuge der UNPROFOR von der Fahrt in die Ortschaft abhalten.
Tags darauf sehen die Schweden die Folgen. Sie fahren durch verkohlte Ruinen, finden ein Massengrab und machen sich – unter Missachtung ihrer Befugnisse – auf die Suche nach Überlebenden im nahen Wald. „Oberst, das ist Wahnsinn!“ Der Oberst: „Ich werde dir sagen, was Wahnsinn ist. Das alles hier hätte verhindert werden können.“ Wäre es zu verhindern gewesen? Das ist eine der Fragen, die einem die Serienschöpfer zuwerfen.
Ein ums andere Mal finden sich die unterbesetzten, im Kriegsgebiet despektierlich „Schlümpfe“ genannten Blauhelm-Einheiten in unmöglichen Situationen wieder. Sie müssen zu einer Schule in Vares ausrücken, in der die HVO muslimische Geiseln festhält, später zeigt ihnen die einmarschierende siebte muslimische Brigade die kalte Schulter („So etwas wie einen unschuldigen Kroaten gibt es nicht“), und einige Skandinavier, zu denen ein gebürtiger Serbe und der Sohn des Verteidigungsministers (Johannes Bah Kuhnke) gehören, geraten auch noch in die Hände serbischer Tschetniks. Dass die UN-Soldaten keine Feinde hätten, erweist sich schnell als fataler Trugschluss.
Ein halbes Jahr wie ein ganzes Leben startet am Donnerstag um 22 Uhr bei Arte.