„Die beeindruckendste Frau, die ich jemals kennengelernt habe“, nannte Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident Armin Laschet sie einmal. Mevlüde Genç verlor bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag ihre Töchter Gürsün und Hatice, ihre Enkelinnen Hülya und Saime, erst neun und vier Jahre alt, und ihre Nichte Gülüstan. Trotz ihrer unendlichen Trauer aber wurde Genç zur Versöhnerin: „Begegnet Hass nicht mit Hass“, wurde ihr Credo. Der Brandanschlag von Solingen im Jahr 1993 ist im kollektiven Gedächtnis der Republik fest verankert; doch werden sich auch nachfolgende Generationen erinnern und aus der Haltung von Mevlüde Genç lernen?
Genç ist im Oktober 2022 kurz vor ihrem 80. Geburtstag gestorben, doch in der Stadt gibt es seit Jahren diverse Projekte für ein besseres Miteinander, den Abbau von Vorurteilen und die Demokratieförderung. Dazu gehört auch ein beeindruckendes Büchlein für Kinder ab der vierten Klasse, das die Geschichte einfühlsam aufbereitet. „Mevlüde bleibt“ haben die drei Religionslehrerinnen Gabriele Bergfeld, Christina Schulz zur Wiesch und Corinna Maßmann erarbeitet. Es ist ein „Buchprojekt gegen das Vergessen“ – und daher nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche und Erwachsene geeignet.
„Der Tod meiner Kinder soll uns die Tür öffnen.“
Erzählt wird die Geschichte der Familie Genç, die 1975 als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Solingen kam, sich dort ihr neues Leben aufbaute und heimisch wurde. Im Jahr 2023 wird die fiktive zehn Jahre alte Luca auf die Gedenkfeier zum 30. Jahrestag des Anschlags aufmerksam und lernt dann alles über den grauenvollen Anschlag, den Schmerz der Familie und deren Entscheidung, in Solingen zu bleiben – und nicht zu hassen. Denn Mevlüde Genç sagt schon kurz nach der Mordnacht: „Der Tod meiner Kinder soll uns die Tür öffnen, Freunde zu werden.“
Die Autorinnen bleiben dabei ganz bei der Familie Genç, die Täter kommen nur am Rande vor. Ergänzt wird das Buch durch zwei Glossare mit den wichtigsten Fachbegrifffen zum Islam und muslimischen Bräuchen, einen Brief der Familie an die Leser, Fotos und feine Illustrationen von Emma Schneider.
Wo einst das Haus der Familie Genç stand, ist heute eine Lücke. Eine Adresse ohne Haus. Das hilft vielleicht dabei zu verstehen, dass das, was vor längerer Zeit geschehen ist, bis heute wirkt. Luca fasst den Auftrag von Mevlüde am Ende gut zusammen – er gilt für alle: „Ich kann niemanden aufhalten, der etwas Böses tun will. Und trotzdem habe ich verstanden, dass ich aufpassen kann. Ich kann aufpassen, dass mein Herz mehr auf Menschen wie Mevlüde hört und nicht auf die, die Hass verbreiten.“