Bosnische Nationalbibliothek in Gefahr: Ein Angriff auf das kulturelle Gedächtnis

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Der 25. August 1992 war der dunkelste Tag in der Geschichte der bosnischen Nationalbibliothek in Sarajevo. Damals wurde die Bibliothek von den serbischen Belagerern der Stadt bombardiert. Etwa 1,5 Millionen Bücher, darunter unersetzliche osmanische und sephardische Schriften aus dem Mittelalter, wurden zerstört. Serbische Scharfschützen nahmen die Feuerwehr unter Beschuss, um Löscharbeiten zu behindern. Militärisch war die Bombardierung der Bibliothek sinnlos. Hier sollte ein Kulturdenkmal vernichtet werden.

Mehr als drei Jahrzehnte später steckt die National- und Universitätsbibliothek Bosnien-Hercegovinas wieder in einem Überlebenskampf. Diesmal bedrohen mangelnde Haushaltsmittel diese Säule des bosnischen Kulturlebens. Schon im Juli hatten die seit Monaten nicht mehr bezahlten Angestellten eine alarmierende Pressemitteilung verschickt: Werde die Finanzierung der Bibliothek nicht rasch sichergestellt, müsse man am 25. August den Betrieb einstellen, denn die 42 Familien der Bibliotheksmitarbeiter könnten so nicht weiterleben. Das symbolische Datum des 25. August sollte den bosnischen Politikern deutlich machen: Wollt ihr drei Jahrzehnte nach den serbischen Truppen für den nächsten Angriff auf das kulturelle Gedächtnis des Landes verantwortlich sein?

Der Vertrag von Dayton und seine Lücken

Die Nationalbibliothek in Sarajevo ist von zentraler Bedeutung für das bosnische Kulturleben. Sie wird von den Studierenden der größten Universität des Landes genutzt, beherbergt ein Weiterbildungszentrum für die Angestellten der anderen 78 Bibliotheken des Landes sowie ein Labor für die Restaurierung historischer Bücher. Vor allem aber ist es die Institution in Bosnien, die ISBN-Nummern vergibt, ohne die kein modernes Buch- und Verlagswesen denkbar ist.

Die Krise der Bibliothek ist nicht neu. Im Januar 2012 wurde dem Haus wegen unbezahlter Rechnungen die Heizung abgestellt. Was das mitten im Winter für die dort gelagerten Handschriften und andere Artefakte bedeutete, kann man sich ausmalen. Der Grund für die wiederkehrenden Engpässe wurzelt im Jahr 1995, als in Dayton der Friedensvertrag für Bosnien ausgehandelt wurde. Mit ihm konnte der Bosnienkrieg, in dem etwa 100.000 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben worden waren, endlich beendet werden. Zu den Dingen, die in dem Vertrag nicht oder nicht abschließend geregelt wurden, gehörte die Finanzierung von sieben staatlichen Kulturin­stitutionen mit landesweiter Bedeutung für Bosnien-Hercegovina. Außer der Bibliothek gehören unter anderem die Nationalgalerie und das bosnische Nationalmuseum dazu sowie das Museum für Literatur und Theaterkünste, in dem das Manuskript von Ivo Andrićs nobelpreisgekröntem Roman „Die Brücke über die Drina“ aufbewahrt wird.

Wer zahlt für die Bibliothek?

Da deren Finanzierung nicht geregelt war, stellte sich immer wieder die Frage, wer dafür zahlen soll. Milorad Dodik, der nach Sezession strebende Präsident der bosnischen Serbenrepublik, die knapp die Hälfte des bosnischen Territoriums einnimmt, lehnt den Staat Bosnien-Hercegovina ab und will für nichts zahlen, was ihn ausmacht. Er will Bosnien aushöhlen und schwächen. Ihm wäre es nur recht, ginge die Bibliothek ein. So gab es über Jahre immer wieder Behelfskonstruktionen und Übergangslösungen, mit denen der Fortbestand der sieben nationalen Kulturinstitutionen gesichert wurde. Mehrfach sprang der Kanton Sarajevo ein, der über mehr Vollmachten und Finanzkraft als der Gesamtstaat verfügt.

Akut wurde die jüngste Krise der Nationalbibliothek, nachdem ihr langjähriger Direktor Anfang September in den Ruhestand ging und kein zeichnungsberechtigter Nachfolger ernannt wurde. Denn auch die Frage der Zuständigkeit für solche Ernennungen ist in Bosnien nicht geregelt und wurde bisher durch Verlegenheitslösungen ohne Rechtsgrundlage umgangen. Naheliegend wäre eine Zuständigkeit eines gesamtstaatlichen Ministeriums in der Rechtsnachfolge der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Hercegovina, festgelegt ist das nirgends. Die Folgen für die Nationalbibliothek stellten sich rasch ein, nachdem durch das Ausscheiden des Direktors niemand mehr Prokura hatte.

Kann der Hohe Repräsentant helfen?

Mitte November wurden dem Haus wegen unbezahlter Rechnungen die Telefone abgestellt. Eine Kappung der Stromversorgung droht als nächstes. Obwohl der Betriebsrat sich immer wieder an die Öffentlichkeit wandte, änderte sich nichts. Die für zivile Angelegenheiten zuständige bosnische Ministerin Dubravka Bošnjak, die der Kroatenpartei HDZ BiH angehört, unternahm Versuche zur Lösung des Problems, kam aber nicht weit, da ein bosnisch-serbischer Minister in der gesamtstaatlichen Regierung verhinderte, dass die Frage auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Falls es nun doch eine Lösung geben könnte, sogar eine dauerhafte, wäre das nicht der einheimischen Politik zu verdanken, sondern der Intervention des CSU-Politikers Christian Schmidt, der seit 2021 Hoher Repräsentant der Staatengemeinschaft in Bosnien-Hercegovina ist. Er verfügt über Vollmachten, mit denen er in das politische Geschehen in Bosnien eingreifen und unter anderem Gesetze dekretieren kann, was er vermutlich im Januar tun wird. In der vergangenen Woche wies Schmidt die bosnische Regierung an, dem Parlament bis zum 20. Januar einen Gesetzesentwurf vorzulegen, um Zuständigkeiten für und die Finanzierung der sieben nationalen Kulturinstitutionen dauerhaft zu regeln. Verstreicht die Frist ergebnislos, wird Schmidt wohl selbst ein entsprechendes Gesetz erlassen.

Oft heißt es, wenn es keinen Hohen Repräsentanten in Bosnien gäbe, würden sich die lokalen Politiker schon selbst auf Lösungen für ihre Streitfragen einigen. Das dürfte in vielen Fällen auch zutreffen. Ob der Fall der Nationalbibliothek dazugehört, kann indes bezweifelt werden. Man möchte es lieber nicht darauf ankommen lassen.

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