Benns Briefe an die Tochter: Du darfst mich heute nicht verlassen

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Ein guter Künstler ist bekanntlich nicht zwangsläufig ein guter Mensch. Bei manchen von ihnen ist man sich darüber schnell einig, wie etwa bei dem Dichter und Arzt Gottfried Benn, der nicht nur Leichen in der Pathologie sezierte und mit Worten wieder neu zusammensetzte, der sich 1933/34 mit unrettbaren Äußerungen zum Thema Züchtung und Erbmasse hervortat und der nicht nur drei Frauen ehelichte, sondern auch eine ganze Reihe von zum Teil parallel laufenden Liebesbeziehungen pflegte.

Dieser scheinbar empathiearmen Haltung wurde bislang auch sein Umgang mit der einzigen Tochter Nele zugerechnet. Als Benns Frau Edith sie 1915 zur Welt brachte, war ihr Mann, weltkriegsbedingt, in Brüssel stationiert, arbeitete dort in einem Prostituiertenkrankenhaus, schrieb an seinen „Rönne“-Novellen und unterhielt dort, zum Leidwesen seiner Frau, auch Liebschaften. Bei Neles Taufe im Sommer 1916 war er nicht anwesend.

Für die Ehe nicht geschaffen?

Nach Benns Rückkehr aus Brüssel hatte man schließlich zwei Berliner Domizile, eine Praxiswohnung in der Belle-Al­liance-Straße (heute Mehringdamm) und eine für die Familie in der Passauer Straße (in der Nähe des KaDeWe). Benn war, so die Schwiegermutter, „für die Ehe nicht geschaffen“, er fühlte sich eingezwängt zwischen beruflichen und familiären Pflichten. Er würde, so schrieb er 1921 an eine damalige Geliebte, am liebsten die „ganze Passauerstraße zum Deibel jagen“. Aber, so fügte er hinzu, „eine Tochter kann man nicht zum Deibel jagen“.

 „Briefwechsel 1930 –1956“.Gottfried Benn, Nele Benn: „Briefwechsel 1930 –1956“.Wallstein/Klett-Cotta

Und doch, als 1922 seine Frau Edith an den Folgen einer Gallenoperation starb, jagte er die siebenjährige Nele zwar nicht zum Teufel, aber er gab sie in fremde Obhut, genauer gesagt in die Hände von Ellen Overgaard, einer dänischen Opernsängerin, die er im Zug kennengelernt und mit der er ebenfalls eine Affäre hatte. In dem Gedicht „Die Dänin“ rühmt er die im „Garten am Meer“ blühende Mutter, „an der sich die Seele tränkt“, während die männlich besetzte Ratio, hier „der Schizophrene / trostlos die Stirne senkt“. Ist das Selbstmitleid eines haltlosen Mannes oder Ausdruck eines künst­lerisch hochproduktiven Doppellebens?

Die Veröffentlichung des lange erwarteten Briefwechsels zwischen Vater und Tochter könnte nun ein anderes Licht auf einen der größten Lyriker und Essayisten des zwanzigsten Jahrhunderts werfen. Als gut eingespieltes Herausgeberteam fungieren erneut Stephan Kraft und Holger Hof, die der Edition dank der Unterstützung von Neles dänischer Familie, vor allem durch Benns Enkel Vilhelm Topsøe, auch Einblicke in das Briefnetzwerk und unterfütterndes Bildmaterial beigeben konnten. Muss man nun also den Dichter und Menschen Gottfried Benn nach der Lektüre der gut 700 Seiten anders beurteilen? Teils, teils, so die mit Benn gesprochene Antwort.

Was bringt einen Vater dazu, sein Kind wegzugeben? War es Kaltherzigkeit, waren es die viel zitierten „Verhaltenslehren der Kälte“ (Helmut Lethen), die Benn, in „Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt“, heranzog, um, so Lethen weiter, „Vertrauenszonen von Gebieten des Mißtrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen“? Sozial desorganisiert war Anfang der Zwanzigerjahre nicht nur die Zwischenkriegsgesellschaft, sondern auch Benns persönliche Situation. Durch seine dauernde Abwesenheit, bedingt durch Beruf, Schreiberei und wechselnde Liebesbeziehungen, konnte er sicher kein vertrauensbildendes und identitätsstiftendes Umfeld für ein Kind schaffen. Auch war er psychisch nicht stabil genug, „in einem frauenlosen Haushalt Kindervater zu sein“ (so noch einmal die Schwiegermutter).

Ihre „Sommermutter“

Nele jedenfalls wurde im April 1923 von einer ihr bis dahin fremden, offenbar durchaus dominanten und mitunter harschen Frau, besagter Dänin, abgeholt und nach Kopenhagen gebracht. Neles emotionaler Anker wurde deren Mann, Christen Overgaard. Aber Nele erkor sich auch einige Ersatzmütter aus, wie etwa Gertrud Hindemith, die Frau des Komponisten, mit der sie eine enge Brieffreundschaft pflegte und die sie ihre „Sommermutter“ nannte, nachdem das kinderlose Ehepaar Hindemith sie einmal mit in den Urlaub genommen hatte. Auch zu Benns späteren Ehefrauen, zu Herta, die sich 1945 aus Angst vor den Russen das Leben nahm, und dann zu Ilse, Benns dritter Gattin, hielt Nele stets einen zugewandten, warmherzigen Kontakt.

Aus den ersten Jahren sind leider keine Briefe zwischen Vater und Tochter erhalten, aber er hat ihr jede Woche geschrieben, manchmal öfter, wie sie später berichtet hat. Ihm war die Entscheidung, Nele fortzuschicken, nicht leichtgefallen. Noch Jahrzehnte später hadert er mit der Entscheidung, seine „Tochter von ihrem 7. Lebensjahr an in einem fremden Land u. bei ganz andersartigen Leuten aufwachsen zu lassen, sie 2-3 Mal im Jahr zu besuchen, so lange es ging, dann alle 5-6 Jahr, auch länger, sie einige Tage zu sehn und im Übrigen mich gar nicht um sie zu kümmern“. Benn war ein „abwesend-präsenter Vater“ (Stephan Kraft). Und gespalten war auch das Verhältnis: Mal wütete Nele, man müsse „Väter abschaffen“, wenn er einen versprochenen Besuch doch noch absagte, dann aber schickt sie immerzu „Grüße und Küsse“, sie lässt ihn teilhaben an ihrem Liebes­leben, sucht seinen Rat, immer wieder auch wegen des sie beide schmerzhaft verbindenden Hautleidens.

Poetische Schönheit und philosophische Tiefe

Die Briefe zwischen Vater und Tochter sind geprägt von wechselseitiger Intimität und Intellektualität, aber auch von ­poetischer Schönheit und philosophischer Tiefe: „Giebt es nicht mehrere Welten?“, fragt er die damals Neunzehnjährige im Oktober 1934: „Hohe und niedrige, kalte u. lauwarme, stumme und zischende, Asche und Feuer? Welches wird Deine sein? Kindchen, ich hoffe so sehr, es wird eine schöne strahlende Welt sein, soweit heute überhaupt noch etwas strahlt . . .“ Neles Welt wurde, wenn man das von außen überhaupt beurteilen kann, eine gute.

Kraft legt eindrücklich dar, inwiefern der dänische Blick auf Nele dabei ein ganz anderer war als der deutsche, „der sie auf eine ins Ausland abgeschobene und etwas zu bemitleidende Tochter eines berühmten, aber zugleich auch sehr ,schwierigen‘ Vaters zu reduzieren“ versuchte. Sie war alles andere als das: Nele Benn, geschiedene Topsøe, verheiratete Sørenson, die erst spät die dänische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, wurde nach ihrem Tod im Alter von 96 Jahren im Jahr 2012 als eine der bekanntesten dänischen Journalistinnen und öffentliche Persönlichkeit gewürdigt. Sie hatte sich stets für eine Reform der Geschlechterrollen eingesetzt, war selbst berufstätig und Mutter von Zwillingen. Und sie war ihrem Vater ähnlich, wie eine von Benns Freundinnen bemerkte: „Sie hat wunderschoene Augen, leuchtender, klarer und heller als die Deinen und nicht so abseitig. (...) Auch besteht eine grosse Aehnlichkeit in dem schwebenden Klang der Stimme.“

Als Kriegskorrespondentin war Nele 1946 nach Berlin gereist, wo sie auch ihren Vater wiedersah: „Nach der jahrelangen Trennung fühlten wir einander so nahe, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Vater und Tochter? Nein, zwei Freunde.“ Das blieben sie, bis zu seinem Tod im Juli 1956. Ihrer Sommermutter Gertrud Hindemith schrieb sie über sein Sterben, er habe seiner Frau Ilse, die bei ihm war, noch gesagt: „Du darfst mich heute nicht verlassen, nicht diesen fremden Leuten überlassen.“ Das schreibt die Tochter, deren Vater sie so früh fremden Leuten überlassen hatte. „Für meinen Vater hatte ich jahrelang sehr ambivalente Gefühle, aber sein Charm [sic], seine Klugheit besiegten mich doch immer, und in den letzten Jahren standen wir uns sehr nah.“ Und dann noch: „Die pünktlichen Briefe von Papa kommen nicht mehr. Das ist schwer.“

Gottfried Benn, Nele Benn: „Briefwechsel 1930 –1956“. Mit Ausblicken auf ihr Briefnetzwerk 1917–1956. Hrsg. von Holger Hof und Stephan Kraft. Kommentiert von Holger Hof unter Mitarbeit von Samuel Müller, Nachwort von Stephan Kraft. Klett-Cotta, Stuttgart, und Wallstein, Göttingen 2025. 704 S., 192 Abb., geb., 66,– €.

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