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Israels Premier Benjamin Netanjahu kämpft mal wieder gegen die Justiz – vor allem um sich selbst zu retten. Damit schwächt er die Demokratie und spaltet das Land.
10. Dezember 2025, 14:25 Uhr
Benjamin Netanjahu ist der Grund, warum Israel darüber diskutiert, ab wann jemand ein Verbrecher ist. Ende November reichte der unter anderem wegen Korruption angeklagte Ministerpräsident ein Gnadengesuch beim Staatspräsidenten Izchak Herzog ein. "Allerdings lässt das entsprechende Gesetz eine gewisse Unklarheit darüber, ob man erst nach einem Gerichtsurteil oder Geständnis als Verbrecher gilt oder ob dafür eine Anklage ausreicht", sagt Dana Blander, Rechtsexpertin am Israel Democracy Institute (IDI), Israels wichtigstem Thinktank zu demokratietheoretischen Belangen.
Ein Gnadengesuch während eines laufenden Gerichtsprozesses zu stellen, ohne verurteilt worden zu sein oder gestanden zu haben, stellt einen Präzedenzfall in Israel dar ‒ und zeigt erneut, wie Netanjahu die Grenzen des Sag- und Machbaren verschiebt: Im November etwa hatte US-Präsident Donald Trump in einem Schreiben eine Begnadigung des israelischen Ministerpräsidenten verlangt, sich damit direkt wie nie zuvor in Israels Innenpolitik eingemischt. In seinem eigenen Bittbrief behauptet Netanjahu nun, dass es allein "im besten Interesse" der Öffentlichkeit sei, dass der Prozess eingestellt werde, da dieser zu einer wachsenden Polarisierung der israelischen Gesellschaft führe. "Dabei ist es Netanjahu, der mit dieser Bitte Israel polarisiert", sagt Rechtsexpertin Blander.
Eine aktuelle IDI-Umfrage vom Dienstag zeigt, wie gespalten Israel auf Netanjahus Bitte reagiert: 50 Prozent der Israelis sagen, dass Herzog dem Gnadenbesuch nicht stattgeben solle ‒ 41 Prozent sagen das Gegenteil. Die Werte bestätigen, was Expertinnen wie Dana Blander fürchten: Netanjahu belastet Israels ohnehin fragiles rechtsstaatliches Fundament zusätzlich. "Wir hatten in Israel einen Fall, in dem Mitarbeitende des Inlandsgeheimdienstes auf Gnade plädierten, ohne vor Gericht zu stehen. Damals argumentierten ihre Anwälte damit, dass die Begnadigung Israels Sicherheit schütze ‒ und hatten damit Erfolg. Darauf bezieht sich Netanjahu jetzt", sagt Blander.
Israels Sicherheitsexperten sprechen von "Israeliness" und meinen, dass sich der Staat nach seiner Gründung zu oft für schnelle Notlösungen entschieden und auf den Zusammenhalt der Gesellschaft vertraut habe. Bis heute hat Israel deshalb keine Verfassung, verließ sich lange auf informelle Prinzipien. Von dieser Gutgläubigkeit profitieren die aktuelle Regierung und Netanjahu direkt, und sie wissen es zu nutzen: Seit Amtsantritt vor vier Jahren müht sich die Koalition darum, die Macht des obersten Gerichts zu beschränken und damit den Rechtsstaat zu schwächen.
Im Sommer 2023 verabschiedete die Regierung etwa ein Grundgesetz zur Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsdoktrin – ein zentrales Rechtsprinzip des Landes. Laut dieser Doktrin darf das oberste Gericht gegen extrem unangemessene Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister vorgehen, füllt damit eine Lücke, die in Israel durch das Fehlen einer Verfassung entstanden ist. Das oberste Gericht stoppte das Gesetz zwar und verhinderte damit seine eigene Entmachtung. Das grundsätzliche Problem aber ist geblieben: Anders als konkrete Gesetze sind rechtsstaatliche Prinzipien und informelle Regeln unzureichend geschützt.
"Es gibt kein Recht auf Gnade"
Esther Chajut, hoch angesehene ehemalige Vorsitzende Richterin am obersten Gericht, warf der Regierung während der Jahreskonferenz der Israelischen Vereinigung für Öffentliches Recht in Haifa am Sonntag deshalb vor, die Unabhängigkeit der Justiz einzuschränken und sensible Ermittlungen zu unterbinden. "Dies ist ein gefährlicher Niedergang, der die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt und das Ansehen des obersten Gerichts sowie seine Fähigkeit, seine Rolle als Hüter der individuellen Rechte und der Rechtsstaatlichkeit wahrzunehmen, schädigt", sagte Chajut laut israelischen Medienberichten.
Mit Netanjahus Gnadengesuch beginnt nun die nächste Phase im Kampf zwischen Israels Demokratie und dem Dauerpremier. Denn nun müssen Juristinnen und Juristen für den Staatspräsidenten Herzog Argumente vorsortieren und abwägen, was grundsätzlich für eine Begnadigung spricht und was dagegen. Wichtig ist: Um juristische Argumente geht es dabei nur bedingt. "Es gibt kein Recht auf Gnade, sondern wir bewegen uns hier eher im rechtstheoretischen, moralischen Bereich", sagt dazu Dana Blander.

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