Isolde schreibt. Pausenlos, hektisch, leidenschaftlich. Sie schreibt ihre eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte von Hass und Hingabe, von abgewürgten Gefühlen und erzwungenem Verhalten. Es ist die Vorgeschichte zu dem, was wir in Richard Wagners Musikdrama erleben, und die aktuelle Aufführung von „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen setzt denn auch damit ein. Isolde schreibt auf ihrem rund und flächig ausgebreiteten Brautkleid. Ein einprägsames Bild, das auf Fotos noch viel überzeugender wirkt als im Festspielhaus. Dort nämlich zeigt sich der Preis, den diese Idee hat.
Das Brautkleid ist ein Kunstobjekt, das sich der Bühnenbildner Vytautas Narbutas und die Kostümbildnern Sibylle Wallum wahrscheinlich zusammen ausgedacht haben. Damit dieses Objekt zur Geltung kommt, ist der Bühnenraum drum herum frei geräumt. Ein paar Schiffstaue, wie es sich für die Überfahrt mit der unfreiwilligen Braut Isolde gehört – mehr ist nicht.

Die Folgen für die Akustik sind fatal. Die aufgerissene Bühne zwingt die Sängerinnen von Isolde und Brangäne, die diesen ersten Akt tragen müssen, ständig mehr Stimme, mehr Kraft zu geben, als es eigentlich sinnvoll und notwendig wäre. Die feinen Zwischentöne, die Wagner auskomponiert, die leisen, hintergründigen Stufen der Dynamik, die er im Notentext oft und ausdrücklich vermerkt und über die Camilla Nylund als Isolde und Ekaterina Gubanova als Brangäne reichlich verfügen, sie haben kaum eine Chance.
Selten ist so deutlich zu erleben, wie entscheidend der Bühnenraum für das akustische Gelingen ist. Dass kein Abbild, sondern ein Sinnbild gezeigt werden soll, ist verständlich, aber es reicht nicht aus.

Etwas anderes kommt hinzu. Semyon Bychkov dirigiert einen schwerlastigen, akustisch oft übersteuerten, pathosgesättigten Wagner, als hätte es das seit mindestens zwei Jahrzehnten auch bei diesem Komponisten um sich greifende Bewusstsein von historischen Klangverhältnissen nie gegeben.
Selbst Christian Thielemann, einst Karajans Assistent, hat seinen „Tristan“ in Bayreuth sehr viel schlanker, agiler, hellhöriger angelegt. An die Luzidität, mit der Kirill Petrenko das Stück selbst im offenen Graben der Bayerischen Staatsoper wie neu entdeckte, darf man nicht denken. Bychkov zelebriert. Er kümmert sich kaum um die Singstimmen. Die reichlich ausgekostete Vorstellung vom symphonischen Ansatz nützt wenig, wenn die innere Agilität, die Nervosität, auch die Modernität des Stückes und die Vielfalt seiner agogischen Finessen drunter leiden.
Die Personenregie ist hilflos
Der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson ist künstlerisch an der Berliner Schaubühne sozialisiert worden. Warum ausgerechnet er so wenige Ideen zur Körpersprache einbringt, bleibt ein Rätsel. Inmitten teils großformatiger, teils übertrieben kleinteiliger Bühneninstallationen bleiben die Sängerinnen und Sänger sich selbst überlassen. Das Ineinander von realen und irrealen Verläufen, das Wagners „Tristan“ ausmacht, findet kein szenisches Äquivalent. In der Personenregie breitet sich Hilflosigkeit aus.
Was die Sängerinnen und Sänger leisten, ist umso mehr zu bewundern. Insbesondere Camilla Nylund lässt sich von den widrigen Umständen kaum beeindrucken. In der ersten Szene des zweiten Aktes setzt sie dem akustischen Dauerdruck subtile Stimmfarben entgegen. Mit körperhaften Pianophrasen und glänzender Höhe lässt sie sich auf das ein, was Wagner als Schweigen und Leuchten der Nacht auskomponiert hat. Im Grunde setzt sie um, was er im Nachruf auf den von ihm über alle Maßen geschätzten Tenor Schnorr von Carolsfeld, den Tristan der Uraufführung, beschrieb: die Vorstellung, dass im Klang einer Stimme das Orchester quasi enthalten sein kann.
Andreas Schager, dem Bayreuther Tristan, gelingt das sehr viel weniger. Andererseits gebietet er über Strahlkraft und Unverwüstlichkeit, wie sie bei Wagner-Tenören lange vermisst wurde. Dass er inzwischen kaum noch Legato singt und bei den Lyrismen des zweiten Aktes Falsetttöne einsetzen muss, um der zurückgenommenen Dynamik entsprechen zu können, lässt sich allerdings als Warnsignal hören. Eine Krux, dass ausgerechnet diese Prachtstimme sich so wenig auf Abgründe und seelische Narben der Figur einlassen will.
Jordan Shanahan bietet als Kurwenal eine Fülle des Wohllauts, was bei der Rolle einiges heißen will. Dagegen klingt Günther Groissböck als König Marke wie ein Schatten seiner selbst. Kaum zu glauben, dass diese Stimme noch vor wenigen Jahren den Wotan der „Walküre“ bewältigen wollte und sollte. Das Publikum blieb angesichts einer derart disparaten Aufführung erstaunlich geduldig und spendete kritiklos Beifall, sogar für das Regieteam. Der wahre Held in Bayreuth ist und bleibt Richard Wagner, dessen avanciertestes Stück viel aushält. War es nicht vor allem er, der da am Schluss dankbar beklatscht wurde?