Wenn Bilder sprechen könnten, wäre John Gasts kleinformatiges Ölgemälde „American Progress (Amerikas Fortschritt)“ von 1872 wohl verblüfft über seinen späten Ruhm. Unscheinbar hängt es mit seinen gerade einmal 30 mal 40 Zentimetern im weitläufigen Autry Museum of the American West, vierzehn Kilometer von Los Angeles entfernt. Das im hispanischen Stil erbaute Museum ist bislang nicht durch affirmative „Macht euch das Land untertan“-Ausstellungen aufgefallen, im Gegenteil. Zwar kann man sich in den tiefgekühlten Patios des Riesenbaus jederzeit John Wayne mit klickernden Sporen um die Ecke biegend vorstellen, und tatsächlich hält das Autry im Innern einen feinen Überblick mit der Wende-Rezeption all der John Waynes, Eastwoods, Reagans und Wałęsas auf Filmplakaten als Freiheits-Cowboys in Osteuropa um 1990 vor. Doch erst vergangenen Herbst wurde dort die äußerst gelungene Ausstellung „Out of Site: Survey Science and the Hidden West“ mit viel Kritik an der skrupellosen weißen Siedlungspolitik und Verdrängung der Indigenen und ihrer Kultur gezeigt. Das Museum wird also vermutlich noch viel Spaß mit Trump haben.
Warum aber nun hier eines der kleinsten unter den 238.000 Objekten des Autry herausgreifen? Einfach: Weil die in „American Progress“ verkörperte Ideologie des weißen „Go West“ und die Vertreibung aller anderen Völker offenbar der Politik der Homeland Security derart zupass kommt, dass die Behörde es auf ihrer Facebook-Seite und andernorts propagiert. Wie aber kann ein betont naiv und unbeleckt von jedem Gespür für Tiefenräumlichkeit und Perspektive gemaltes Bild 153 Jahre nach seiner Entstehung der „Make America Proud Again“-Kampagne Trumps nutzen, was ist darauf ideologisch Verwertbares zu sehen?
Für den US-Heimatschutz ist der „Fortschritt“ blond und blauäugig
Über einer weiten Weltenlandschaft, die links oben im Westen von die Rockies zeigt und im Osten vom Atlantik und New York mit der erst drei Jahre zuvor begonnenen Brooklyn Bridge des Thüringers Roebling begrenzt wird, schwebt übergroß eine blauäugige blonde Frau in weißem antikisierendem Gewand. Es muss sich bei der Schwebenden um eine Allegorie in der Tradition der Antike handeln: Sie trägt einen griechischen Chiton, der mit Mühe noch von ihrer linken Brust am Herabsinken gehindert wird und der hinter ihrem Rücken als pathetisch bewegtes Beiwerk in zackigen Faltenblitzen aufflattert. Über ihrer Stirn prangt ein goldener fünfzackiger Stern, einst Symbol der Eos-Morgenröte, bei dem in Berlin geborenen, preußisch-spätklassizistisch geschulten Maler John (eigentlich Johannes) Gast aber zusammen mit dem Buch im rechten Arm umgedeutet zum amerikanischen Stern der Stars-and-Stripes-Flagge.
Wie ein Lasso aufgewickelt hält sie den Draht für bis nach New York zurückreichende Telegrafenmasten, die parallel zu einer fauchenden Dampflok auf ihren noch nach Westen zu verlängernden Gleisen aufgerichtet wurden, womit sie zur frisch erfundenen Verkörperung des „amerikanischen Fortschritts“ wird. Nicht weniger als drei Schienentrassen mit Dampfrössern streben zu Füßen der „Progress“ gen Westen, gemeinsam mit einer angesichts der ausgedehnten Staubwolke dahinter offenbar rasenden Postkutsche, Goldgräbern, Trappern und Soldaten sowie pflügenden Farmern, die rechts im Vordergrund ihren langen Schatten hochsymbolisch in dieselbe Richtung werfen.
Die Indigenen werden ins Meer getrieben oder gleich ausgerottet
Vor allem aber schiebt die Schwebende gewissermaßen einen ebenfalls weißen Planwagen mit Kolonisatoren vor sich her, deren Hunde bereits Vieh der Indianer zerfleischen, und einen Stamm rothäutiger Indigener mit Federschmuck auf wilder Flucht, von denen sich eine Barbusige mit Tomahawk drohend gegen die Personifikation umwendet, während der Stamm in eine vom Maler durch die Dunkelzone am linken Rand angedeutete ungewisse Zukunft oder gar den Untergang zieht.
Die Negativdeutung hat Gewicht, weil hinter dem Planwagen wiederum ein Cowboy zu Pferde zu sehen ist, der eine bis zum Horizont reichende Bisonherde vor sich her treibt und damit die noch im Siedlungsterrain verbliebenen Indianer mit ihren Tipis um ihre Nahrungsgrundlage bringen wird. Auch wenn das Bild schon 1872 retrospektiv war, da die Eroberung des Westens damals großenteils abgeschlossen war, gab es noch im Jahr seiner Entstehung ein Massaker an den Yavapai. Der Kommentar des Social-Media-Directors der Homeland Security unter dem Gemälde, „A Heritage to be proud of, a Homeland worth Defending“, also „Ein Erbe, auf das man stolz sein kann, eine Heimat, die es wert ist, verteidigt zu werden“, ist – hier muss man noch nicht einmal postkolonial eingestellt sein – weder geschmackssicher, noch ist die Analogie historisch korrekt, denn „verteidigt“ wird die angestammte Heimat der Indigenen bei Gast gewiss nicht von den weißen Siedlern. Die Indianer aber werden so mit den zu vertreibenden Mexikanern und feindlichen Fremden von heute assoziiert.
„Maria-Mary hat gute Gene“
Das Bild ist somit kein zufällig geposteter Privatgeschmack des Departmentleiters für Heimatsicherheit, sondern ausgefeiltes Programm. Denn ebenfalls von der Homeland Security wurde vorvergangene Woche das Neo-Wildwest-Gemälde „A Prayer for a New Life“ auf deren Seite präsentiert, das auch politisch gelesen werden kann. Es wirkt, als stamme es auch aus John Gasts Zeit des amerikanischen Aufbruchs nach Westen, der Künstler Morgan Weistling aber malte es erst 2020. Im Innern eines Planwagens hält eine junge Frau ihr Neugeborenes im Arm. Der ebenfalls junge Vater in Wildwest-Montur dahinter umarmt beide, auf einer roh gezimmerten Kiste liegt unübersehbar in der Blickbahn eine Bibel. Ebenso evident ist, wie der Maler sich in der Grundkomposition an eine „Maria mit Kind und Joseph“-Gruppe der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten anlehnt. Die junge Mutter jedenfalls hat dunkelblondes, langes Haar, mutmaßlich blaue Augen unter den andächtig gesenkten Lidern, rosige Wangen und scheint vor Gesundheit nur so zu sprühen. Sie entspricht zusammen mit der Bibel dem Klischeebild der genetisch „gesunden“ White-Anglo-Saxon-Protestant-Siedler auf der Suche nach „Lebensraum im Westen“.

Der Stoff ihres tiefblauen Oberteils muss ein schwerer sein, da er glatt fallend kaum Falten wirft; die Bluse wirkt wie aus starkem Denim geschneidert. Wie die Aktrice Sydney Sweeney in ihrer aktuell umstrittenen Jeans-Werbung soll offenbar auch diese amerikanische Ur-Mutter mit guten Jeans und Genen (was im Englischen Homophone sind) vorgestellt werden, die sie selbstredend an ihr Kind weitergegeben hat. Unverblümt wird das Bild von der Security kommentiert mit „A New Life in a New Land“, abermals also die Behauptung einer Besiedlung von Niemandsland mit der Frontstellung von „neuem“ im Sinne von besseren Leben als das ja dort gar nicht vorhandene bisherige.
Die Banalität des Bösen existiert somit stets auch in Bildform. Prima vista wenig martialisch auftretende Bilder werden oft rekontextualisiert und zu Aushängeschildern von neu-alten Ideologien umgedeutet. Die Gewöhnung an das süße Gift gefällig glatter, aber pseudosakralisierter Bilder jedoch tritt schleichend ein.