Badewetter – auch für Bakterien: Vibrionen breiten sich an Europas Küsten aus 

vor 9 Stunden 1

Sie sind kleiner als ein Staubkorn, aber haben das Potenzial, den ganzen Sommerurlaub zu ruinieren: Vibrionen besiedeln zunehmend europäische Küsten. Die Mikroben fühlen sich dort wohl, wo Süß- und Salzwasser aufeinandertreffen, das Wasser dadurch weniger salzhaltig und warm ist. Dann beginnen sie sich rasant zu vermehren. In Europa gelten sie als seltene Gesundheitsgefahr – bisher.

Mit jedem Zehntelgrad globaler Erwärmung steigt das Infektionsrisiko für Badeurlauber: Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) warnt aktuell vor einem Anstieg des Infektionsrisikos in Nordeuropa. Vibrionen kämen zunehmend in der Ostsee, in Teilen der Nordsee sowie in Mündungsgebieten vor. Bereits 2018 registrierten Länder rund um die Ostsee 445 Infektionen. Das ist mehr als das Dreifache des jährlichen Durchschnitts der Vorjahre. Da die Meeresoberflächentemperaturen in ganz Europa steigen, sei zu erwarten, dass sich die stäbchenförmigen Bakterien auch in anderen Küstengebieten ausbreiten werden. Damit werden Meere zur Brutstätte.

Unter solchen Umständen kann schon eine Schürfwunde oder ein versehentlicher Schluck Wasser ausreichen, um schwer zu erkranken.

Kyle Brumfield, Mikrobiologe im „Scientific American“

Vibrionen sind winzige Bakterien von nur einem bis drei Mikrometer Länge, die natürlicherweise in brackigen Küstengewässern vorkommen. Mehr als 100 Arten sind bekannt, viele davon harmlos. Doch einige, etwa Vibrio vulnificus oder Vibrio parahaemolyticus, können schwere, teils tödliche Infektionen auslösen. Besonders gut gedeihen sie in warmem Wasser: Schon ab etwa 15 Grad Celsius steigt ihre Zahl spürbar, ab 25 Grad explodiert das Wachstum regelrecht, schreibt der Mikrobiologe Kyle Brumfield im „Scientific American“.

3D-Illustration von Vibrio vulnificus. Die stäbchenförmigen Bakterien von nur einem bis drei Mikrometer Länge kommen natürlicherweise in brackigen Küstengewässern vor, also da, wo Süß- und Salzwasser aufeinandertreffen.

© stock.adobe.com/Dr_Microbe

Vibriosen, das ist der medizinische Fachbegriff für Erkrankungen durch Vibrionen, verlaufen unterschiedlich. Die Bakterien können über winzige Hautverletzungen in den Körper eindringen und zu Entzündungen, Rötungen und Schwellungen der Haut führen. In schweren Fällen kann es zu einer Blutvergiftung oder einer nekrotisierenden Fasziitis (umgangssprachlich: fleischfressende Krankheit) kommen. Es drohen Amputationen oder der Tod. Auch übers Essen können Vibrionen in den Körper gelangen.

Besonders gefährlich sind rohe oder unzureichend gegarte Meeresfrüchte: Befallene Austern können zu schweren Magen-Darm-Erkrankungen mit Durchfall, Bauchschmerzen, Übelkeit, Fieber und Schüttelfrost führen. Ein einzelner Ruderfußkrebs kann über 10.000 Bakterienzellen tragen, heißt es im „Scientific American“. Wird eine Vibriose früh erkannt, lässt sich die Erkrankung meist gut mit oraler oder intravenöser Flüssigkeitszufuhr in den Griff bekommen. Schwerere Verläufe, etwa Wundinfektionen, erfordern Antibiotika und mitunter eine Operation.

Wie man Infektionen vorbeugt

Gefährdet sind Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder chronischen Lebererkrankungen, schreibt ECDC. Um Infektionen vorzubeugen, empfiehlt die Behörde, keine rohen Meeresfrüchte zu essen. Wer Schnittwunden hat, sollte gar nicht erst baden oder die Wunde danach umgehend reinigen.

Die steigenden Wassertemperaturen ermöglichen es manchen Arten, sich schneller zu vermehren. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn Stürme und starke Regenfälle die Nährstoffkonzentration erhöhen und den Salzgehalt in Küstengewässern verändern. Dadurch dehnt sich der bevorzugte Lebensraum der Bakterien aus. „Unter solchen Umständen kann schon eine Schürfwunde oder ein versehentlicher Schluck Wasser ausreichen, um schwer zu erkranken“, schreibt der Mikrobiologe Brumfield.

Klimawandel verlängert Vibrionen-Saison

In Europa wurden Vibrionen-Infektionen laut dem „Scientific American“ mittlerweile in Finnland, Schweden, Dänemark und Norwegen gemeldet. Und der Klimawandel verlängert ihre Saison. Heute seien die Bakterien bis in den Winter aktiv. Experten und Expertinnen gehen von einer hohen Dunkelziffer der Infektionen aus. Viele verlaufen milde oder werden nicht als Vibriose erkannt.

Die Erreger vermehren sich in Wärme nicht nur schneller, sie verändern sich auch. Einige Stämme werden hitzetoleranter oder entwickeln Antibiotikaresistenzen. Und sie sind clever: In unwirtlichen Zeiten verfallen sie in einen „Viable but Nonculturable“-Zustand, eine Art bakterielles Koma. In diesem Zustand sind sie mit klassischen Labormethoden nicht nachweisbar, können aber jederzeit wieder aktiv werden. Genau das passiere im „warmen, nährstoffreichen Milieu des menschlichen Darms“ so Brumfield.

Um die Bedrohung einzudämmen, arbeiten Forschende wie Brumfield an satellitengestützten Frühwarnsystemen. Diese analysieren Temperatur und Salzgehalt – Indikatoren für Vibrio-Risiken – und liefern so eine Art „Bakterienbericht“. „Unser Ziel ist es, ein Vibrio-Warnsystem zu entwickeln, ähnlich dem Rotflaggensystem, mit dem Kommunen Badegäste vor gefährlichen Badebedingungen warnen“, schreibt Brumfield. Die ECDC betreibt ein solches System: Der Vibrio Map Viewer zeigt, wo günstige Bedingungen für Vibrio-Bakterien herrschen.

Gesamten Artikel lesen