Raymond Depardon wurde am 6. Juli 1942 geboren. Zehn Tage später fand in und um Paris die in jeder Hinsicht monströse Razzia auf jüdische Männer, vor allem aber Frauen und Kinder statt, die unter dem Namen „Rafle du Vel d’Hiv“ in die Geschichte eingegangen ist. Schon am Folgetag begannen die großen Deportationen. Zwischen dem 17. Juli und dem 30. September verließ alle zwei oder drei Tage ein Güterzug das Land, um (bis auf eine Ausnahme) je rund tausend Juden „nach Osten“ zu verfrachten. Endstation war Auschwitz; von 33.065 Deportierten überlebten 131 oder 132. Kleinere Wellen oder einzelne Konvois in die Vernichtungslager folgten von November an nach: Bis August 1944 wurden dort ein Viertel der 320.000 im Vichy-Staat lebenden in- und ausländischen Juden ermordet.

Als Sprössling einer nicht jüdischen Bauernfamilie aus dem Beaujolais, der in Paris aus der Berufung zum Fotografieren den Beruf gemacht hatte, besaß Depardon keine direkte Beziehung zum Holocaust. So machte er sich recht unbeleckt ans Werk, als die Illustrierte „Paris Match“ ihn im Winter 1979 mit einer Fotoreportage über Auschwitz betraute. „Eines Morgens stand ich da – es war einer der größten Schocks meines Lebens“, erinnert sich der heute Dreiundachtzigjährige in einem Interview, das sich im Katalog zur Ausstellung „Auschwitz-Birkenau vu par Raymond Depardon“ des Pariser Mémorial de la Shoah findet. Einzelne Bilder waren verschiedentlich veröffentlicht worden, aber es ist das erste Mal, dass die ganze Serie zu sehen ist.
Sauber belichtet und fokussiert
Depardon verbrachte zwei Wochen vor Ort und lichtete jedes Motiv mehrfach, ja oft dutzendweise ab. Vom Portal des Stammlagers mit dem Wahlspruch „Arbeit macht frei“ gibt es nicht weniger als fünfzig Aufnahmen – im Quer- oder Hochformat, aus kleinerer oder größerer Nähe sowie aus verschiedenen Blickwinkeln. Desgleichen Dutzende von Bildern der Wachtürme und Stacheldrahtzäune, der Barackenräume und Schuhberge, der Zyklon-B-Dosen und Krematorien, der Erschießungsmauer und des Galgens. Am Ende seines Aufenthalts überflog der Fotograf sogar im Hubschrauber das Lager Auschwitz-Birkenau, um einen Eindruck von der Ausdehnung dieses zuvörderst der industriellen Tötung zugedachten Teils des Riesenkomplexes zu gewinnen.

Gleich dem Gros der nicht jüdischen Franzosen am Ende der Siebzigerjahre hatte Depardon vage vom Durchgangslager Drancy bei Paris gehört, aber kaum etwas von Auschwitz. Seine Fotoreportage trägt so primär dokumentarischen Charakter: Sie sucht das Unfassbare zumindest in seinen materiellen Relikten zu erfassen, in Landschaften, Gebäuden und hinterlassenen Objekten. Der Ansatz lässt sich mit jenem der 820 Auschwitz-Fotos vergleichen, die Juergen Teller jüngst bei Steidl publiziert hat: Es handelt sich um den Versuch, einen Ort durch weitgehend stilfreie Serien zu erschöpfen. Depardons Bildkompositionen sind schnörkellos: sauber belichtet und fokussiert, fast unweigerlich lotrecht. Nur selten erlaubt sich der Fotograf eine expressionistische Schräge – besonders ausdrucksvoll im Querformat einer Laterne vor einem um 45 Grad gebeugten Wachturm.
Depardon war 1979 ein Pionier
Was am stärksten im Gedächtnis haftet, ist der harte Kontrast zwischen verschneiten Dächern, Böden und Wiesen unter bleichem Himmel einerseits und finsteren Bauten, Bäumen und Masten anderseits. Eindrücklicher lässt sich das grafische Potential von Schwarz-Weiß-Fotos kaum ausreizen. Die Stimmung, die diese Bilder verbreiten, ist weniger Terror denn Trauer – eine in der Zeit festgefrorene, abgrundtiefe Trostlosigkeit. Zumal Depardon im Gegensatz zu Teller auf alles Triviale, ja selbst auf jede menschliche Präsenz verzichtet (Besucher gab es damals längst).

Die Auschwitz-Ikonographie bestand zum Zeitpunkt von Depardons Reportage im Wesentlichen aus sowjetischen Filmaufnahmen der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 (sie wurden aus praktischen wie propagandistischen Gründen ein paar Wochen später nachgestellt, mit realen Lagerinsassen). Alles andere drang erst später ins öffentliche Bewusstsein. So die beiden sogenannten Auschwitz-Alben und Alberto Erreras heimliche Fotografien vom Hof des Krematoriums V während der Ermordung der ungarischen Juden 1944. Aber auch fotokünstlerische Arbeiten wie – um drei Beispiel zu nennen – „Residents“ von Zbigniew Libera (eine polemisch ins „Positive“ gewendete Nachstellung einer sowjetischen Aufnahme befreiter Lagerinsassen hinter Stacheldraht), „Auschwitz – What Am I Doing Here?“ von Mikołaj Grynberg (eine Reflexion über Besuche des ehemaligen Lagers vor dem Hintergrund dessen, was ein Überlebender die „Distanz der Desolation“ genannt hat) sowie Naomi Tereza Salmons „Asservate/Exhibits“ (eine „klinisch-kriminologische“ Serie über Relikte wie Brillen, Rasierpinsel und Zahnprothesen).
Depardon war 1979 ein Pionier. Die gelungensten seiner Auschwitz-Aufnahmen, die das Mémorial de la Shoah in den Ausstellungssälen wandfüllend vergrößert, bedienen ein Register, das seinerzeit als das einzig zulässige im Umgang mit dem Holocaust und mit Auschwitz als dessen Emblem galt: jenes des Taktvoll-Dokumentarischen, Unpathetisch-Betroffenen, vor allem aber dezidiert Signaturfreien – ein Fotograf durfte diesen Bildmotiven, die wie ein schwarzes Loch alle Moral und Menschlichkeit verschlucken, unter keinen Umständen seine Autorschaft aufdrücken.
Fast ein halbes Jahrhundert später ist dieses Tabu gefallen. Die Diskussion, was nicht nur Fotografen, sondern alle bildenden Künstler sowie Schriftsteller, Filmemacher und andere Schöpfer mit dem Holocaust „machen“ dürfen, füllt Bände; ständig verschieben sich die Grenzen. Es gibt heute Kunstwerke in Form von Lego-Bausätzen für KZs oder von Souvenirläden für Auschwitz-Birkenau. Demgegenüber wirkt Depardons Position – auch weil wir seine Serie mit 46 Jahren Zeitverzögerung rezipieren – klassisch, ja vorhersehbar.
Auschwitz-Birkenau vu par Raymond Depardon. Mémorial de la Shoah, Paris; bis zum 9. November. Der Katalog kostet 22 Euro.