Äste, Wurzeln und Geröll: Auf Pisten in freier Natur sind Mountainbiker auf vieles gefasst, was sie aus dem Sattel zu schleudern vermag. Nicht aber auf plötzliche Liebe und erst recht nicht auf einen Killer. Jan (Philip Günsch) und Lukas (Marven Gabriel Suarez-Brinkert), Schüler eines Gymnasiums in Oberbayern, sind am Abend ihrer tollkühnen Radtour entsprechend verwirrt. Bei Joint und Musik stellen sie in einer Waldhütte fest, füreinander geschaffen zu sein. Sie geben sich der Lust hin – und sehen durch das Fenster, wie ein Mantelträger (Lucas Gregorowicz) drei Rocker erschießt. Nur knapp können die Jugendlichen verhindern, dass der Täter auch sie als Zeugen des Geschehens beseitigt. Die Waffe, die sie im Eifer des Gefechts in die Hände bekommen, entsorgen sie im nächsten Gewässer.
Die Jungen schweigen
Der deutsche Vierteiler „Die Augenzeugen“, Remake einer norwegischen Serie aus dem Jahr 2014, die bei uns auf Arte lief und bereits eine amerikanische, eine rumänische und eine französische Fassung erlebte, handelt vom Schweigen der Jungen danach. Sie haben aus guten Gründen Angst, vom Täter doch noch gefunden zu werden. Und auch etwas Angst, dass ihr Schwulsein öffentlich wird.
Letztere wird hier nicht so betont wie im Original. Der Schweigepakt, den die Jungen am Wasserfall schließen, war dort noch mit dem Aufschrei „Ich bin kein Homo!“ verbunden. In der deutschen Version spürt man die Furcht vor dem Outing nur zwischen den Zeilen, wenn Lukas seinem Freund Jan einschärft: „Wenn wir zu den Bullen gehen, sind wir als Nächstes dran.“
Zum Killer gehört ebenfalls eine heimliche Liebe. Von ihr erzählt eine Parallelspur, die mit einem Mädchen (Julia Anna Grob) beginnt. Auf einer dritten Spur treten Ermittler auf: die traurige Helen Severing (Nicolette Krebitz), die bei der Mordkommission Bayrischzell beschäftigt ist und nicht ahnt, dass ihr Ziehsohn Jan die Morde beobachtet hat, ihr bodenständiger Kollege Sascha Wolf (Michael Kranz), die kühle Corinna Will (Lana Cooper) vom Dezernat für organisierte Kriminalität in München und Vitus Steiner (Ercan Durmaz), Wills Vorgesetzter, ein erfahrener und leider schwerkranker Mann, für den auch Helen bis vor Kurzem gearbeitet hat. Die Münchner sind an dem Fall schon deshalb interessiert, weil einer der Rocker, die an der Waldhütte erschossen wurden, ein verdeckter Ermittler war.
Es scheint die übliche Mischung zu sein. Mit mancherlei Schwächen: Wie Pappfiguren wirken etwa der Mafiosi Vicenzo Fontana (Michele Cuciuffo) und der Rockerboss Franjo Pranjic (Shenja Lacher) von den breitbeinigen „Balkan Bavarians“, Großstadt und Provinz verschwimmen zu einem konturlosen Nichtraum. Die personellen Verstrickungen nerven. Und die Geschichte um einen Erpresser, der ein Video von den schmusenden Jungen aufnahm, entbehrt jeder Notwendigkeit.
Nach hinten raus erweist sich die Produktion, die Anna-Katharina Maier für die ARD Degeto und Servus TV inszenierte, allerdings als solider Unterhaltungskrimi. Nicolette Krebitz und Lana Cooper sind unterfordert, spielen die Ermittlerinnen aber angenehm trocken. Lucas Gregorowicz mimt den Mörder mit kühlem Janusgesicht. Kamera und Musik bleiben eine verlässliche Bank, und wenn der Erzählfluss versiegt, sorgt das Drehbuch, das Jens-Frederik Otto mit Anil Kizilbuga und Michael Vershinin verfasste, durch effektvolle Wendungen für neuen Schwung.
Anerkennung verdient nicht zuletzt die Erkenntnis, dass drei Stunden für diese Geschichte reichen. Das Original von Jarl Emsell Larsen, das aus einer Zeit stammt, in der Norwegen auch mal mit einer Serie auftrumpfen wollte, wie sie die schwedischen Nachbarn mit „Kommissarin Lund“ und „Die Brücke“ vorgelegt haben (auch von diesen gibt es diverse Remakes), war fast doppelt so lang. Sie fuhr in der Heimat viel Lob ein und bekam einen internationalen Emmy für die Schauspielerin Anneke von der Lippe als Helen. Zu den großen Serien aus dem Norden aber wird sie selten gezählt. Weil sie durchaus Längen besaß.
Die Augenzeugen läuft am Samstag um 20.15 Uhr in der ARD und in der Mediathek.