ARD-Doku über Netanjahu: „Bibi lügt von vorne bis hinten“

vor 21 Stunden 2

Diesen Film wollte der israelische Regierungschef Benjamin „Bibi“ Netanjahu verhindern. Doch das Gericht in Jerusalem wies seine Klage ab. Der Film „The Bibi Files – Die Akte Netanjahu“ zerlegt ihn regelrecht. Der Vorwurf: Er soll Geschenke als Gegenleistung für Gefälligkeiten im Interesse reicher Partner angenommen haben. Wird er schuldig gesprochen, drohen ihm bis zu drei Jahre Haft, und er müsste als Ministerpräsident zurücktreten. Doch daran denkt er nicht. „Jeder Schritt“, sagt der 75 Jahre alte Netanjahu, „hat seinen Preis. Wenn du mit dem Preis nicht umgehen kannst, kannst du nicht führen. Und ich weiß mit dem Preis umzugehen.“ Nein, so lautet die These des Films, das kann er eben nicht. Den enormen Preis für seinen rücksichtslosen Kurs zahle das Land.

In ihrer Dokumentation zeigen die südafrikanische Regisseurin Alexis Bloom und der Produzent Alex Gibney erstmals zugespielte Videos von Polizeiverhören aus den Jahren 2016 bis 2018, in denen die Vorwürfe untersucht werden. Die Bänder umfassten Hunderte von Stunden an Material, sagte Gibney der „Financial Times“. Drei Jahre lang verhörte die Polizei Hunderte von Zeugen, einige wurden mehrfach befragt. Der Film feierte Ende des letzten Jahres auf dem Toronto Filmfestival seine Premiere, in den amerikanischen und britischen Kinos lief er im Dezember 2024 an. Nun hat sich die ARD entschieden, den Film in ihr Programm aufzunehmen. Wer in dem Film Ausgewogenheit erwartet, wird sie nicht finden – es ist eine charakterliche Hinrichtung. Dennoch gibt er einen wertvollen Einblick in die innenpolitische Debatte Israels, das in einem Mehrfrontenkrieg steckt.

Der Krieg als Mittel, um an der Macht zu bleiben

„Nichts schärft den Geist so sehr wie die Aussicht, gehängt zu werden“, beginnt Nimrod Novik, ehemaliger Berater von Schimon Peres. „Und nichts schärft Netanjahus Geist mehr als das Rasseln des Gefängnistores, das hinter ihm zugeschlagen würde.“ Was Novik meint, zeigt Netanjahu, wenn er den Ermittlern während des Verhörs gegenübersitzt. Er wird wütend, gestikuliert wild und sagt: „Sie stellen mir wahnhafte Fragen und versuchen, meinem Glas und meinem Aschenbecher auf den Grund zu gehen. Das ist absurd und schwachsinnig.“

Dem israelischen Journalisten Raviv Drucker zufolge wurde der Gazakrieg nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 für Netanjahu zu dem Mittel, um an der Macht zu bleiben. Sein Überleben hänge vom Kriegszustand, von der Instabilität der Lage ab. Das sieht auch Ami Ajalon, der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Shin Bet, so und sekundiert: „Er überlebt, wenn wir uns gegenseitig bekämpfen, wenn sich unsere Feinde gegenseitig bekämpfen.“ Ein „ewiger Krieg“ sei für Netanjahu von Vorteil. Das gebe den Menschen das Gefühl, auf ihn angewiesen zu sein. Und diese andauernde Bedrohung helfe ihm, Regierungschef zu bleiben, meint Ajalon. Diese These ist nicht neu. Dennoch lohnt es sich, dranzubleiben.

Netanjahu streitet Vorwürfe ab

Einprägsam sind die Szenen aus den Verhörräumen. Es geht bei den Korruptionsvorwürfen um „hochwertige Geschenke“ in Millionenhöhe an das Ehepaar Netanjahu. Etwa um „Bibis“ Vorliebe für Cohiba-Behike-Zigarren, 1100 Dollar für eine Zehnerpackung, Schmuck für seine Frau Sara wie ein Diamant-Armband für etwa 42.000 Dollar und Kisten von Champagner. „Bibi“ streitet alles vehement ab. „Die Öffentlichkeit und die Medien arbeiten Hand in Hand, um mich zu belasten“, sagt er. „Die Medien stiften Chaos. Ach, das genusssüchtige Ehepaar Netanjahu, die ein Leben wie die Könige führen. Das ist alles Unsinn!“ Auch Sara zeigt sich genervt und sitzt mit verschränkten Armen da. „Mit Ihren Verhören wollen Sie doch nur den Premierminister zu Fall bringen“, sagt sie. Netanjahu antwortet mehrmals auf Fragen mit dem Verweis, dass er sich nicht mehr erinnere. Sein Kindheitsfreund Usi Beller merkt an: „Bibi lügt von vorn bis hinten.“

„The Bibi Files - Die Akte Netanjahu“ARD

Instruktiv sind die Einblicke, die „Bibis“ ehemaliger Kommunikationschef, Nir Hefetz, offeriert. Er erzählt von dem Verhältnis zwischen dem Tycoon Shaul Elovitch und Netanjahu. Elovitch brauchte rund 250 Millionen Dollar und eine Unterschrift des Ministerpräsidenten. Was wollte Bibi dafür haben? Er wünschte sich eine positive Berichterstattung und hatte Israels älteste Nachrichtenseite „Walla“ im Visier.

Hier beginnt die problematische Beziehung. „Denn Shaul ist sich sicher, dass er die Unterschrift bekommt, wenn er den Netanjahus die Kontrolle über die Walla-Website überlässt“, sagt der Ex-Chefredakteur von „Walla“, Avi Alkalay. Das Publikum sei jung, die Seite erreiche täglich Hunderttausende Menschen. Die Angriffe auf die Website erfolgten auf jedem erdenklichen Weg, erzählt Alkalay: Telefonanrufe, E-Mails, SMS, Whatsapps, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Netanjahu behauptet hingegen, dass es kein „Quidproquo“ gegeben habe. Er sagt: „Ich halte die Struktur der Medien in Israel für einen grundlegenden Schwachpunkt in unserer Demokratie.“ Seine Frau führt aus: „Ich möchte nur eine etwas positive, objektive und ausgewogene Presse. Das ist alles. In diesem riesigen Ozean, in dem Tsunami, in dem wir von Erschießungskommandos massakriert werden und mein Name in den Dreck gezogen wird.“ Ebenso stimmt der Sohn Jair ein; er beleidigt die Polizei als „Mafiosi“, das Verfahren sei „widerlich“ und „schäbig“. Jair pöbelt und redet sich in Rage.

Nun führt Netanjahu eine in Teilen rechtsextreme und ultrareligiöse Regierung an – mit dem Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich. Netanjahu, sagt Novik treffend, sei deren Launen ausgeliefert: „Diese Leute sind messianische Annexionisten, Verfechter der jüdischen Vorherrschaft. Diese Leute wollen in Gaza und im Westjordanland siedeln.“

Der Film bietet einen Parforceritt durch Israels Krisen: die problematische Justizreform, die Proteste, den umstrittenen Kurs im Gazakrieg, das Geiseldrama. Wichtig ist das Gespräch mit Gili Schwartz, einer Überlebenden des Grauens vom 7. Oktober. Sie ist im Kibbuz Be’eri aufgewachsen, erst 20 Jahre alt und hat die negativen Auswirkungen von „Bibis“-Politik „gründlich satt“: „Ich will seinen Namen nicht mehr hören, sein Gesicht nicht mehr sehen.“ Wohin führt Netanjahu, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlassen hat, das Land noch? Für seinen Kindheitsfreund Usi Beller steht fest: „Es ist schrecklich, was er meinem Land angetan hat. Das ist wirklich unverzeihlich.“

The Bibi Files – Die Akte Netanjahu in der ARD-Mediathek. 

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