Angriffe auf Haifa: Man muss kein Ziel sein, um zu sterben

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 Ein Soldat der israelischen Armee begutachtet den Schaden im Haus der Familie Khatib in Tamra. Bei dem Einschlag einer iranischen Rakete kamen dort vier Menschen ums Leben.

Ein Soldat der israelischen Armee begutachtet den Schaden im Haus der Familie Khatib in Tamra. Bei dem Einschlag einer iranischen Rakete kamen dort vier Menschen ums Leben. © Ahmad Gharabli/​AFP/​Getty Images

Der Iran beschießt die Ölraffinerie in Haifa. Eine Rakete schlägt in Tamra ein und tötet vier arabische Israelis. Sind nicht alle in Israel gleich gut geschützt?

15. Juni 2025, 21:31 Uhr

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Von Baha Kenaans Büro hat man eine gute Aussicht auf die Ölraffinerie von Haifa. Er arbeitet in der Kleinstadt Tamra, nur wenige Kilometer Luftlinie von der israelischen Hafenstadt Haifa entfernt, 300 Meter über dem Meeresspiegel. Hier wohnen überwiegend muslimische Israelis. Kenaan ist einer von ihnen. Er sagt: "Die iranischen Raketen zielten auf die Kraftwerke und die Ölspeicher dort unten. Auf dem Weg ist eine von ihnen einfach bei uns abgestürzt und hat uns vier Menschen genommen." 

Baha Kenaan, 49 Jahre alt, das Gesicht fahl, die Augen glasig, ist der Assistent des Bürgermeisters von Tamra. Wie vielen Einwohnern ist ihm an diesem Sonntagvormittag der Schock anzusehen. Die ballistische Rakete mit einem Sprengstoffkopf von mehreren Hundert Kilogramm schlug direkt im Wohnhaus der Familie Khatib ein. Sie tötete Manar Khatib, die Mutter, ihre beiden Töchter Shada, 20 Jahre, und Hala, 13 Jahre alt, sowie die Schwägerin. Er kenne die Familie gut, sagt Kenaan. "Die Ehemänner sind Juristen, ich auch, und die Frauen und Mädchen waren hoch angesehen im Ort." 

In der Nacht zu Freitag griff Israel den Iran erstmals an. Seither schlafen hier wie dort die Menschen angesichts wechselseitiger Attacken kaum noch. In der Nacht zum Sonntag heulten in Israel zweimal die Sirenen im ganzen Land. Der erste Beschuss richtete sich ausschließlich auf den Großraum Haifa mit seiner kritischen Infrastruktur. Das iranische Regime setzte damit erstmals um, was die Israelis schon im Krieg gegen die libanesische Terrormiliz Hisbollah befürchteten: dass massiver feindlicher Beschuss auf ein konzentriertes Gebiet die Raketenabwehrsysteme überfordert. 

Mit verschiedenen Abwehrsystemen versucht Israel zwar, seine Kraftwerke zu schützen. Allerdings befinden diese sich oft in Regionen, in denen nicht jüdische Minderheiten ohne ausreichend Schutz vor herabfallenden Raketenteilen leben. Der Vorsitzende der Chadasch-Partei etwa, Ayman Odeh, wirft der Regierung vor, nicht genügend öffentliche Schutzräume zur Verfügung zu stellen – insbesondere für arabische Gemeinden.

Beim historisch ersten Angriff des Iran im April vor einem Jahr mit rund 300 Flugkörpern wurde in Israel nur ein Mensch schwer verletzt – ein beduinisches Mädchen aus der Negevwüste. Damals zielte der Iran unter anderem auf das Kernforschungszentrum Dimona, das mitten in der Wüste liegt, wo Beduinen oft in ärmlichen Bedingungen leben. 

Im Norden von Haifa, nahe der Kleinstadt Tamra, leben arabische Israelis, Muslime, Christen, Drusen. In den wenigsten Orten gibt es ausreichend öffentliche Schutzbunker, schon gar keine unter der Erde. Als nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 auch die Hisbollah mit dem Beschuss auf Israel begann, kritisierten jüdisch-arabische Initiativen wie Standing Together den diskriminierenden Mangel an Schutz. Israel schwächte die Hisbollah binnen kurzer Zeit. Die meisten Opfer der Eskalation gehörten der arabischen Minderheit an. 

Auch in Tamra soll es nicht einen einzigen öffentlichen unterirdischen Bunker geben, sagt Baha Kenaan. Eine Suche via Google Maps bestätigt das. Nur die aber bieten angesichts der massiven Sprengkraft der Raketen wirklich Schutz, wie die bisherigen Gegenschläge des iranischen Regimes gezeigt haben. Neben kritischer Infrastruktur scheinen dabei auch Wohnsiedlungen im Visier zu stehen. Beim zweiten Angriff in der Nacht zum Sonntag schlug eine Rakete in ein zehnstöckiges Haus in der Küstenstadt Bat Yam südlich von Tel Aviv ein. Das Hochhaus stürzte in sich zusammen, begrub viele Menschen unter sich. Die Bergungsteams brauchten bis zum Nachmittag, um den Einschlagskrater zu sichern. Sieben Tote sind bisher bestätigt, darunter mehrere Kinder. 

Geborstene Fenster mit Ornamenten, geknickte Palmen und Zedernbäume; die elegante Balkonbalustrade ist unter der Last des eingestürzten Dachs zusammengesackt: Die Straße, in der die Khatibs leben, wirkt wie ein Symbolbild für Israels neue Realität. Plötzlich schlagen auch hier wieder Raketen ein, trotz des weltweit umfassendsten Abwehrschutzes. Man "jage die Raketen", hatte ein Sprecher der israelischen Armee in einem Presse-Briefing gesagt. Wer es nicht rechtzeitig in einen sicheren Bunker schafft, wird unfreiwillig Zeuge dieser Jagd. Der muss mit anhören, wie die Militärjets die Schallmauer durchbrechen und mit ihren Abfangsystemen versuchen, die Langstreckenraketen einzuholen. 

Durchschnittlich werden in Israel etwa 95 Prozent aller Raketen abgefangen, wobei die jüngsten iranischen Gegenschläge noch nicht einkalkuliert sind. In jedem Fall war immer klar, dass passieren könne, was Familie Khatib und der Stadt Tamra nun passiert ist. Auch hier haben die meisten Neubauten private Bunkerzimmer, so ist es laut israelischer Bauverordnung seit einigen Jahren Pflicht. An der Einschlagstelle in Tamra herrscht Uneinigkeit darüber, ob die Opfer in ihrem Bunker waren, als die Rakete einschlug. Die Männer und Söhne hätten sich aber sicher darin befunden, sagt ein freiwilliger Helfer und zeigt auf das abgesackte Dach. Dort habe sich das Bunkerzimmer befunden, die Rakete sei direkt darauf gefallen. 

Vor dem Haus schiebt ein Bulldozer raus gerissene Fensterrahmen, Autotüren und andere Trümmer zusammen. Bei jedem Schritt der Helfer knacken Glasscherben unter ihren Füßen, Staub wirbelt auf. Die Detonation hatte eine solche Kraft, dass auch die Terrassenstufen im Haus gegenüber in sich zusammengesunken sind. "Steig einfach darüber, ich helfe dir", sagt Mohammed Kewan, der hier zusammen mit seiner Frau, den beiden kleinen Söhnen, seinen Brüdern, deren Familien und den Eltern wohnt. 15 Menschen seien sie im Haus gewesen, sagt Kewan. Er führt ins Haus, deutet auf die Risse im Fundament. Aus der Decke ragen Balkenteile wie gebrochene Knochen hervor. "Wir wären alle tot. Alle tot, wären wir nicht im Bunker gewesen", sagt Kewan. 

Und je länger er spricht, desto spürbarer wird, wie traumatisiert er ist. Auf die Frage, was er bei der Detonation gehört habe, sagt er: "Gehört? Gehört habe ich nichts – oder doch, ich weiß nicht, ich weiß nur, was ich gesehen habe, als ich nach draußen auf die Straße gegangen bin." Die verstümmelten Körper der Getöteten seien aus dem Haus geschleudert worden. Sein kleiner Sohn habe das alles gesehen. "Wie soll er diese Bilder jemals aus dem Kopf bekommen?" 

Kewan sei Arzt in Tiberias, sagt er, und ein friedlicher Mensch. Er habe gern mit seinen jüdischen Kollegen zusammengearbeitet, überhaupt habe er sein Leben gemocht. Nun aber könne er nicht mehr, das habe er auch seiner Frau gesagt. "Seit Monaten will ich nur noch weg von hier." Er tritt aus seinem Haus und blickt auf die Zerstörung ringsum. Kurz darauf geht erneut der Raketenalarm los. 

Am Abend meldet die israelische Zeitung Ha'artez in ihrem Liveblog sieben weitere Verletzte in Haifa.

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