Angehörige der israelischen Geiseln: Wer kommt frei, wer bleibt zurück?

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Netanjahu besucht Trump, derzeit laufen erneut Verhandlungen um einen Waffenstillstand. Währenddessen bangen und verzweifeln die Angehörigen der verbliebenen Geiseln.

8. Juli 2025, 14:44 Uhr

 Demonstrierende rufen bei einer Demonstration in Tel Aviv dazu auf, die Geiseln in Gaza nicht zu vergessen.
Demonstrierende rufen bei einer Demonstration in Tel Aviv dazu auf, die Geiseln in Gaza nicht zu vergessen. © Ahmad Gharabli/​AFP/​Getty Images

Wer schafft es auf die Liste? Diese Frage stellten israelische Medien in dieser Woche. Und diese Frage stellen sich ganz sicher die Angehörigen der noch in Gaza verbleibenden Geiseln der Hamas. Sichtlich erschöpft geben sie Fernsehsendern Interviews. Dort werden wieder und wieder die Schicksale der Verschleppten gezeigt.

Die Liste, um die es geht, ist zentraler Bestandteil eines möglichen Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen. Ein Entwurf dazu wird derzeit verhandelt, und er sieht die Freilassung von einem Teil der Geiseln vor. Mehr als anderthalb Jahre nach ihrem Überfall auf Israel hält die Hamas noch 50 Geiseln gefangen. Nur noch 20 davon sollen am Leben sein, 19 Israelis, ein Student aus Nepal. Nur zehn von ihnen sollen laut dem aktuellen Entwurf freikommen, außerdem sollen die Leichen von 18 Getöteten übergeben werden. Die übrigen zehn Geiseln will die Hamas halten, bis die Frage beantwortet ist, wer Gaza nach dem Krieg kontrollieren soll.

Im Januar dieses Jahres trat schon einmal eine Waffenruhe in Kraft. Auch damals wurden Geiseln gegen palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen getauscht. Im März endete die Waffenruhe, weil sich die Konfliktparteien nicht auf eine Regelung für ein Nachkriegs-Gaza einigen konnten. Auch der neue Entwurf, laut dem festgelegt sein soll, dass der US-Präsident die Einigung persönlich verkündet, vertagt diese wesentliche – vielleicht überlebenswichtige – Diskussion auf später.

Um dieses Abkommen soll es eigentlich auch während einer Reise von Benjamin Netanjahu gehen. Israels Ministerpräsident ist derzeit in Washington, D. C. zu Besuch bei US-Präsident Donald Trump. Vergangene Nacht traten sie kurz vor die Presse, doch wesentliche Fortschritte in der Frage verkündeten sie nicht. Stattdessen schlug Netanjahu, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Gaza erlassen hat, Donald Trump für den Friedensnobelpreis vor.

"Ich werde Ihr größter Albtraum sein"

Den Familien der Geiseln hilft das nicht, sie leiden unter den in der Öffentlichkeit viel diskutierten Verhandlungen. "Warum muss ich die gesamte Liste der gefallenen Geiseln lesen und die Chancen für die Rückkehr meines Sohnes berechnen?", fragte etwa Michel Illouz am vergangenen Samstag in Tel Aviv bei einer Demonstration für die Freilassung der Verschleppten. Sein Sohn Guy Illouz wurde während der Gefangenschaft getötet und befindet sich noch in Gaza. "In was für einem verrückten, kranken und unmenschlichen Film müssen wir eigentlich leben?"

Die Frage, wer es auf die Liste der Freizulassenden schafft, zermürbt die Angehörigen sichtlich. Zu den lautesten Stimmen der Geiselfamilien gehört Einav Zangauker, deren Sohn Matan am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde. Von ihm wird angenommen, dass er noch lebt. Unermüdlich spricht seine Mutter auf Protesten, gibt Interviews, reiste wiederholt in die USA, flehte erst Joe Biden, dann seinen Nachfolger Donald Trump an, ihr zu helfen. 25 Kilogramm soll sie über ihren Kampf verloren haben, berichtete die New York Times im April.

Zangauker stammt aus Ofakim, einer eher rechts wählenden Kleinstadt an der Grenze zu Gaza. Auch die 46-Jährige selbst wählte vor dem 7. Oktober Netanjahus Likud-Partei. Dass ihr Ministerpräsident nicht mehr für die Freilassung ihres Kindes tut, wirft sie Netanjahu persönlich vor: "Ich werde Sie heimsuchen, wenn mein Matan in einem Leichensack nach Hause kommt", drohte Zangauker einmal. "Ich werde Ihr größter Albtraum sein."

Zangauker steht für jene Angehörigen, die sich ständig der Öffentlichkeit stellen. Trotz des Risikos, damit das Leben ihres Sohnes zu gefährden. Wie sie selbst mehrmals sagte, fürchtet sie, für ihren lauten Protest bestraft zu werden und deshalb noch immer auf die Rückkehr ihres Sohns zu warten. Tatsächlich nutzt die Hamas das Schicksal von Matan, mittlerweile 27 Jahre alt, für ihre Propaganda. Erst am vergangenen Samstag veröffentlichte sie eine Fotomontage, auf der ein blutverschmierter Müllsack mit einem Foto des Verschleppten zu sehen ist, darunter steht auf Hebräisch, Englisch und Arabisch: "Er wird nicht lebend zurückkommen." In einer beifügten Stellungnahme behauptete die Hamas, Soldaten der israelischen Armee hätten den Ort umstellt, an dem Matan als Geisel festgehalten werde: "Wir versichern, dass der Feind nicht in der Lage sein wird, ihn lebend zu bergen. Wir haben sein Leben 20 Monate lang bewahrt; wenn dieser Gefangene bei einem Befreiungsversuch getötet wird, wird die Besatzungsarmee für seinen Tod verantwortlich sein", heißt es in dem Schreiben.

"Jede Familie wählt ihren eigenen Weg"

Netanjahu zumindest schien sich von der Drohung nicht beeindrucken zu lassen. Am Samstagabend teilte er mit, die Hamas habe Änderungen am Entwurf für den Waffenstillstand gefordert, die inakzeptabel seien. Amir Tibon, diplomatischer Korrespondent der israelischen Zeitung Ha'aretz und selbst Überlebender des Hamas-Angriffs, schreibt in einer aktuellen Analyse, die Hamas wolle mittlerweile einen Deal, während Netanjahu die Verhandlungen weiterhin bewusst in die Länge ziehe, um seine Macht zu halten. Die rechtsextremen Koalitionspartner Netanjahus stellen sich offen gegen ein Abkommen, drohten wiederholt damit, die Regierung zum Scheitern zu bringen, sollte Netanjahu einem Kriegsende in Gaza zustimmen. Finanzminister Bezalel Smotrich etwa sagte im April: "Die Geiseln nach Hause zu bringen ist wichtig, aber es ist nicht das wichtigste Ziel." 

Dieser Riss verläuft zunehmend nicht mehr nur durch die Parteien der Knesset, sondern durch die gesamte israelische Gesellschaft. Freigelassene Geiseln und Angehörige der weiterhin Verschleppten müssen sich etwa mit Hasskampagnen im Internet auseinandersetzen, angeheizt von Israels extremer Rechten. Besonders im Fokus der Attacken steht dabei Einav Zangauker. In den sozialen Medien werfen ihr Nutzer etwa vor, die Hamas gebe ihren Sohn nicht frei, weil er durch ihren Aktivismus zum "wertvollsten Gut" der Terroristen geworden sei.

Das Forum für Geiseln und vermisste Familien, das sich für die Verschleppten einsetzt, forderte wiederholt, die israelische Öffentlichkeit solle aufhören, die Angehörigen zu beleidigen. "Jede Familie wählt ihren eigenen Weg, um für die Rückkehr ihrer Angehörigen zu kämpfen, und niemand hat das Recht, sie dafür zu verurteilen", hieß es etwa in einem Aufruf im Februar.

Tatsächlich lässt sich schlicht nicht vorhersagen, welche Strategie den verbliebenen Geiseln nun hilft oder schadet. Auch Schweigen ist kein Garant für Rettung, das hat etwa die Familie von Elkana Bohbot erlebt. Der mittlerweile 36-jährige Bühnenbauer wurde während des Nova-Festivals entführt. Als Vater eines kleinen Sohnes, Asthma-Patient und entführter Zivilist rechneten seine Angehörigen fest damit, dass Bohbot während des Abkommens im Januar freikommen werde. "Der Staat Israel hat einen Fehler gemacht, indem er die Väter nicht auf die Liste gesetzt hat", sagte seine Frau Rivka dazu in ihrem ersten Interview Ende März – und erklärte, warum sie sich bisher nicht an die Öffentlichkeit gewandt habe: "Wir hielten uns im Hintergrund, anstatt zu kämpfen, weil wir ihn schützen wollten. Wir wollten nicht, dass er in der ersten Reihe steht – und am Ende blieb er zurück."

Mittlerweile bedauere die Familie diese Entscheidung. In die erste Reihe gestellt wurde Bohbot statt von ihnen schließlich von der Hamas. Im April veröffentlichte sie ein Propagandavideo des Gefangenen. Darin fordert Bohbot, Israels Armee und die Regierung sollten alles dafür tun, ihn freizubekommen.

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