Ohne Alfred Hilsberg und seine Schallplattenfirma ZickZack wäre die Geschichte der deutschen Popmusik eine andere gewesen. Nun ist Hilsberg gestorben. Ein Nachruf
19. August 2025, 19:25 Uhr
Lieber zu viel als zu wenig: So lautete das Motto seiner Schallplattenfirma ZickZack, und so hieß auch die Sammlung von Sommerhits, die 1981 auf diesem Label erschien. Die Sommerhits trugen dann ihrerseits Titel wie Ich werde in der Sonne immer dicker, gesungen von der Gruppe Die Zimmermänner, Sommer im Dornrosental von Andreas Dorau oder – mit etwas diffuserem Bezug auf das Thema – Bakterien für Seele von den Einstürzenden Neubauten. Ach, denkt man sich, wenn man diese Kompilation an einem lauen Sommerabend wieder einmal auf den Schallplattenteller legt – wie schön waren doch die Achtzigerjahre! Jedenfalls Sommerhits wie diese werden heute nicht mehr komponiert.
Alfred Hilsberg heißt der Mann, dem wir all das verdanken und noch vieles mehr; vielleicht kann man heute einmal kurz innehalten und sagen: Ohne Alfred Hilsberg wäre die Geschichte der deutschen Popmusik eine andere gewesen. Geboren wurde er 1947 in Wolfsburg, er schaffte es als Proletarierkind auf das Gymnasium, aber vor dem Abitur warf man ihn raus. Also ging er nach Hamburg, wo er Anfang der Siebzigerjahre damit begann, experimentelle Kurzfilme auf LSD zu drehen, außerdem wurde er Dozent an der Hochschule für Bildende Künste und Geschäftsführer der Filmmacher Cooperative. 1977 wandte er sich der Musik zu, nach einem Konzert der britischen Punkband The Vibrators in Hamburg entwickelte er eine große Liebe zum gerade erblühenden Punk. Er schrieb im damals wichtigsten westdeutschen Musikmagazin Sounds und versuchte, dessen eher noch Hippie- und Protestsong-sozialisierte Leserschaft für die rohe Energie, den Witz und den Nihilismus dieser neuen Musik zu begeistern. Rodenkirchen Is Burning hieß ein einschlägiger Text, in dem er 1978 über die entstehende Punkszene in Westdeutschland berichtete, er begann mit der Beschreibung eines Konzerts im Gemeindesaal der Martin-Luther-Kirche in Düsseldorf: "Lucy lüpft das Netzhemdchen, um auf Zehenspitzen und mit spitzem Mund den Welthit Yes Sir, I Can Boogie zu intonieren. Lucy singt bei der Punk-Band T.V. Eyes aus Köln."
Mit der Gesamtsituation unzufrieden
Ja, so sah damals der deutsche Punk-Underground aus, und Alfred Hilsberg hatte zwar große Zweifel daran, ob sich daraus etwas Dauerhaftes entwickeln könnte, wie man in seinem Rodenkirchen-Text nachlesen kann, aber er mochte das Selbstorganisierte, Nicht-Kommerzielle; er mochte den sich ausbreitenden Willen, eine eigene musikalische Kultur zu etablieren, ohne sich den Regeln der Kulturindustrie zu unterwerfen. 1979 gründete er sein eigenes Schallplatten-Label, um all den jungen, neuen, aufregenden Bands, die um ihn herum aus dem Boden sprossen, die Möglichkeit zu geben, ihre Musik zu verbreiten. Die ersten Bands, die er veröffentlichte, hießen Geisterfahrer, Abwärts und Freiwillige Selbstkontrolle; in letzterer spielte der Journalist Thomas Meinecke, der später auch als Schriftsteller zu Bekanntheit gelangte. 1981 brachte ZickZack die erste EP (Kalte Sterne) und das erste Album der Einstürzenden Neubauten heraus: Kollaps prägte mit seinem infernalischen, selbstbewusst amusikalischen Krach und den romantisch-nihilistischen Texten des Sängers Blixa Bargeld eine ganze Generation junger Menschen, die mit der Gesamtsituation unzufrieden waren.
Lieber zu viel als zu wenig: In den ersten Jahren des ZickZack-Labels produzierte Alfred Hilsberg seine Schallplatten wie im Rausch in riesigen Mengen – was dadurch erleichtert wurde, dass er die Künstler, die er veröffentlichte, so gut wie niemals bezahlte.
Geräusche für die 80er hieß die Kompilation, mit der Alfred Hilsberg 1980 sein Label erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Damals soll er für die von ihm favorisierte Musik auch den Begriff Neue Deutsche Welle erfunden haben; diese Geschichte wird oft erzählt, ist allerdings falsch. Richtig ist hingegen, dass die von Hilsberg geförderten Bands gemeinsam eine deutschsprachige Pop-Avantgarde bildeten, in der wirklich etwas Neues passierte. Wenn es eine Neue Deutsche Welle gab, die diesen Namen verdiente, dann hat Alfred Hilsberg sie erfunden. Woraufhin die Musikindustrie, wie es so ihre Eigenart ist, den Trend kommerziell auszubeuten begann mit Marketinggeschöpfen wie Peter Schilling, Hubert Kah, Extrabreit usw. und binnen Kurzem dann auch ruinierte.
Geräusche für die 90er hieß dann die Kompilation, mit der Alfred Hilsberg am Beginn des nächsten Jahrzehnts einen neuen Anlauf nahm; auf ihr hörte man unter anderem Kolossale Jugend und Cpt. Kirk &. – zwei Bands aus der ersten Generation der später sogenannten Hamburger Schule, die ihrerseits für den deutschsprachigen Pop der Neunzigerjahre prägend sein sollten. Dafür war dann vor allem ein Album verantwortlich, das Hilsberg im Jahr 1992 herausbrachte: Ich-Maschine, das Debüt der Hamburger Gruppe Blumfeld, das vor allem mit den gleichermaßen intellektuell überdehnten, kunstvoll verkomplizierten und zugleich total sensibel und authentisch wirkenden Texten des Sängers Jochen Distelmeyer wiederum eine ganze Generation junger popmusikbegeisterter Menschen prägte. So war Hilsberg in den Neunzigerjahren noch einmal zum wichtigsten Impresario der deutschsprachigen Pop-Avantgarde geworden. Und immer noch zahlte er seinen Künstlern keine Honorare – gut dokumentiert von der Berliner Band Mutter, die ebenfalls auf dem What’s-So-Funny-About-Label epochale Zeitlupen-Schlammrock-mit-Selbstgeißelungs-Texten-Alben wie Du bist nicht mein Bruder oder Europa gegen Amerika herausbrachte; in Wir waren niemals hier, einem Dokumentarfilm über die Band, sieht man ihre Mitglieder nach einem Konzert in einem erbitterten Streit mit Hilsberg darüber, dass alle Einnahmen der zurückliegenden Tournee verschwunden scheinen.
Geräusche für den Tag danach hieß die Kompilation, mit der Alfred Hilsberg, etwas verspätet, im Jahr 2002 die Nullerjahre einläutete, es war seine letzte Jahrzehntbegrüßungskompilation. Von den Künstlern und Bands, die er darauf versammelte, ist vor allem Jens Friebe in Erinnerung geblieben; dessen Langspieldebüt Vorher Nachher Bilder wurde dann 2004 zu einer Art generationaler Selbstverständigungsplatte, ähnlich intellektualisiert wie Blumfelds Ich-Maschine, aber – seiner Zeit angemessen – nicht mehr vom Aufbruchsgeist der Neunziger geprägt, sondern nun vielmehr von der desillusionierten Lethargie, die auf dieses Jahrzehnt folgte.
Musik und Politik und die Blödigkeit der Welt
Bis Anfang der Zehnerjahre brachte Alfred Hilsberg weiter Musik heraus. Wenn seine Bands in Berlin oder Hamburg in meist kleinen Clubs spielten, saß er selber hinter der Kasse oder hinter dem Merchandising-Tisch. Wer ihn nicht kannte, konnte ihn von seiner Gesamterscheinung für einen meist ausgesprochen übellaunigen, menschenfeindlichen Typen halten, dieser Eindruck ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber man konnte auch in späteren Jahren wunderbare Gespräche mit ihm führen über Musik und Politik und die Blödigkeit der Welt und freute sich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte und am anderen Ende jemand mit einer sehr tiefen, gleichermaßen zugewandten und keinen Widerspruch duldenden Stimme sagte: "Hier ist Alfred. Wir müssen über meine Band XY reden. Die muss jetzt in die Zeitung, wann machst du das. Sonst komm ich persönlich vorbei."
Auf dem Debütalbum von Jens Friebe gibt es einen Song mit dem Titel Wenn man euch die Geräte zeigt, darin singt er: "Ich hab heut nacht geträumt / es wär nicht alles egal / und wir hätten eine Wahl". Sein Mentor, unser Freund, der große Ermöglicher Alfred Hilsberg ist nun im Alter von 77 Jahren in Hamburg gestorben.