Siebenundzwanzig Stunden hat Yuliia Kozlovets gebraucht, um von Kiew nach Berlin zu kommen. Es hätte schneller gehen können, aber in der Nähe von Lemberg blieb der Zug eine Stunde lang stehen, wegen eines Luftangriffs. Und dann noch mal zwei Stunden bei Frankfurt/Oder wegen der Deutschen Bahn. Jetzt steht Yuliia Kozlovets im weiten Garten des Hauses der Berliner Festspiele, schaut auf die Menschen, die mit einem Glas Wein in der Hand zusammenstehen, die flirrende Literaturfestival-Atmosphäre. Ihr eigenes Festival war im Mai, mehrmals wurde es von Luftalarm unterbrochen. Sie erzählt von der besonderen Energie, die das 2011 gegründete Book Arsenal, das sie leitet, seit dem Beginn des russischen Angriffs durchströmt, von einer neuen Intensität und Direktheit: „Wenn man merkt, wie wertvoll das Leben ist, wird man ehrlich.“
Zum Book Arsenal kommen nun weniger internationale Autoren als früher, Literatur von anderswo gibt es aber weiterhin. Weil die Kultur im Ausland für die Ukrainer weniger zugänglich sei, man zum Beispiel nicht mehr in zwei Stunden nach Wien fliegen könne, wolle sie die Kultur zu ihnen bringen. Vor allem aber sei das Festival unentbehrlich geworden als Ort, um die Erfahrung des Lebens im Krieg zu teilen. Nicht nur Bücher werden vorgestellt. Zum Wehrdienst eingezogene Schriftsteller berichten von der Front, Soldaten davon, was Lesen für sie bedeutet. Manches werde später vielleicht zu einem Buch, sagt Yuliia Kozlovets. Für den Moment gehe es schlicht ums Erzählen und um das, was es bewirke: ein Gefühl von Gemeinschaft, eine Erinnerung daran, warum es sich lohnt, nicht aufzugeben in diesem Krieg.
Lesen heißt, einen anderen Körper zu betreten
Es ist eine besonders eindrückliche Antwort auf eine Frage, die sich wie ein zarter roter Faden durch das diesjährige Internationale Literaturfestival Berlin zieht (ILB): Was können solche Formate, was kann das gemeinsame Literaturerlebnis in Zeiten von Unsicherheit und Umbruch? Gesetzt hat das Thema die mexikanisch-amerikanische Schriftstellerin und diesjährige Ko-Kuratorin Cristina Rivera Garza in ihrer Eröffnungsrede (F.A.Z. vom 11. September). Nach einer ernüchternden Variation von Charles Dickens – „it was the worst of times, it was the worst of times“ – gelang ihr das Kunststück, das Publikum wiederholt zum synchronen Ein- und Ausatmen zu bewegen, ganz ohne dass man das Gefühl bekam, sich in ein überfülltes Achtsamkeits-Seminar verirrt zu haben.

Das gemeinsame Luftholen wurde zu einer sekundenlangen physischen Verbindung aller im Saal, doch Cristina Rivera Garza wollte noch auf etwas anderes hinaus: Lesen bedeute für sie nicht nur, mit jemand anderem gemeinsam zu denken, sondern sogar, dessen Körper zu betreten. Das habe sie gemerkt, als sie die Texte ihrer vor dreißig Jahren ermordeten Schwester durchsah, über die sie nun einen Roman geschrieben hat.
Der Fremde, der in die Stadt kommt
Einen Schwerpunkt bekam das Nachdenken der Institution über sich selbst am Samstag, als vier Festivalleiter von ihrer Arbeit erzählten, auch Yuliia Kozlovets saß auf dem Podium. Bei den Berichten aus Namibia, Indien, Kiew und Sopot in Polen kam man ins Staunen darüber, welche Erfolgsgeschichte 1949 im britischen Cheltenham – das dortige Festival gibt es immer noch – ihren Anfang nahm. Es brauche nur einen idealistischen „Fool“, wie Rémy Ngamije aus Namibia sagte, der 2019 das Doek Festival in Windhuk gründete und ein schönes Bild für die Intention solcher Veranstaltungen fand: Es werde die uralte Tradition gewahrt, den Fremden, der in die Stadt kommt, zu begrüßen und seiner Geschichte zuzuhören. Mehrfach fiel das Wort von dem spezifischen Ökosystem, das so ein Festival sei – mit der Finanzierung als dauerhaft kritischem Faktor.
Die allermeisten Literaturfestivals sind auf private Sponsoren angewiesen. In Berlin kommt immerhin die Hälfte des Etats, 660.000 Euro, aus dem Hauptstadtkulturfonds. Das ILB hat in diesem Jahr seinen eigenen Anlass zur Nabelschau. Es begeht seine 25. Ausgabe und feiert dies mit berühmten Gästen, die erneut geladen wurden: die Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah und Herta Müller, Isabel Allende, Mieko Kawakami. Gern hätte man sich daran erinnern lassen, wie das ILB, in den ersten Jahren aus der Wohnung seines Gründers Ulrich Schreiber heraus geplant, zum neben der Lit.Cologne wichtigsten Literaturfestival in Deutschland wurde. Es gab schließlich extra eine Jubiläumsrevue. Die hätte mit Kunstnebel, Musik und der schlagfertigen Dragqueen Audrey Naline das Zeug zum Camp-Vergnügen gehabt, verlor sich aber in Geplänkel, und das kann nicht nur daran gelegen haben, dass man eventuell die Tatsache umschiffen wollte, dass Schreiber 2023 nach Vorwürfen gegen seinen Führungsstil zurücktrat. Seine Nachfolgerin Lavinia Frey hat das Festival klarer konturiert, verschlankt und, wie man aus dem Team hört, die Arbeitsatmosphäre grundlegend verbessert.
Im Kunstnebel der Revue ging auch eine aufschlussreiche Datenanalyse der belarussischen, in Berlin lebenden Essayistin und Fotografin Olga Bubich unter. Sie stellte fest, dass die Festivalgäste zunächst zu über siebzig Prozent männlich waren. 2024 lag ihr Anteil bei 38 Prozent. Die Zahl der Teilnehmer aus Asien und Afrika steigt seit 2011. Und: Von den bislang über 3000 eingeladenen Autorinnen und Autoren hatten knapp 500 zum Zeitpunkt ihres Besuchs ihr Heimatland verlassen. Viele, wie auch Olga Bubich, weil sie keinen anderen Weg sahen.