1. Etappe der Tour de France: Himmel des Nordens

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Etappensieger Jasper Philipsen aus Belgien

Etappensieger Jasper Philipsen aus Belgien

Foto: Thibault Camus / AP

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Endlich wieder: Für viele beginnt jetzt erst der Sommer. Der Tag, an dem die Tour de France losgeht. Drei Wochen stundenlange Kontemplation am Fernsehen, inklusive Nachmittagsschläfchen mit den Stimmen von ARD-Livekommentator Florian Naß und TV-Experte Fabian, »noch drei Kilometer, dann geht es links weg«, Wegmann im Hintergrund, wie sie über das nordfranzösische Handwerk des Spitzenklöppelns plauschen. Drei Wochen Landschaftspanorama, die Alpen und die Pyrenäen, drei Wochen französische Delikatessen, getestet von Michael Antwerpes, drei Wochen Jens Voigt auf dem Eurosport-Motorrad. Back to the commentators. Herrliche Zeiten. Douce France. Douce Tour.

Die 1. Etappe: Endete dort, wo sie begann. Über 185 Kilometer ging es für die 184 Profis aus 23 Teams von Lille in einer Schleife zurück in die Stadt. Alle hatten mit einer Sprintankunft gerechnet – und genau so kam es: Belgiens Sprinterkönig Jasper Philipsen gewann auf der Ziellinie und fuhr ins erste Gelbe Trikot. Der Wind, der das Feld 20 Kilometer vor dem Ziel zerstückelte, sorgte allerdings kurz davor, dass einige der Topfahrer schon wertvolle Sekunden verloren: Der Vorjahresdritte Remco Evenepoel und Bora-Kapitän Primož Roglič gehörten dazu – und auch der deutsche Hoffnungsträger Florian Lipowitz.

Die deutsche Tour-Hoffnung Florian Lipowitz

Die deutsche Tour-Hoffnung Florian Lipowitz

Foto: David Pintens / Belga / IMAGO

Erst wird gesungen: Die Marseillaise wird zum Start der 1. Etappe aus voller Kehle gesungen, das gehört zur Tour dazu. Die Inbrunst ist in diesem Jahr umso mehr gerechtfertigt, weil die gesamte Tour 2025 ausschließlich in Frankreich ausgetragen wird. Die Tour de France findet in ihrer 112. Auflage zu sich selbst.

Stunde der Ausreißer: Mit dem Start hatte sich ein Quintett vom Feld abgesetzt, mit dem Ziel die ersten Punktewertungen im Lauf der Etappe abzugreifen. Dabei waren vier Franzosen und der Deutsche Jonas Rutsch, der bei der ersten kleinen Bergwertung allerdings nicht ganz vorn mitfahren konnte. Und sich damit die Schlagzeile »Guten Rutsch« entgehen ließ. 100 Kilometer vor dem Ziel wurde die Gruppe eingeholt.

Die Fünfer-Ausreißergruppe mit dem Deutschen Jonas Rutsch

Die Fünfer-Ausreißergruppe mit dem Deutschen Jonas Rutsch

Foto: Christophe Petit Tesson / EPA

Dunkle Schatten: Es ist eine Region im Norden, die aus der Vergangenheit so viel mit sich herumschleppt: Die Soldatenfriedhöfe mit ihren Tausenden von Gräbern aus den Weltkriegen zeugen davon. Und Florian Naß fand dafür die richtigen Worte, indem er den Ausdruck »Gefallene« sezierte: »Die sind nicht gefallen, das sind Tote.« Die Etappe führt auch durch Lens, auf andere Art ein Menetekel: Verbunden mit dem fürchterlichen Angriff der deutschen Hooligans auf den Gendarmen Daniel Nivel bei der Fußball-WM 1998.

Ein Herz für Sprinter: Die ersten neun Tour-Tage bieten den Sprintexperten im Peloton beste Chancen. Anders als in den Vorjahren geht es in der Anfangsphase relativ flach in die Frankreichrundfahrt, so wie in einen Badesee, der erst später seine bedrohliche Tiefe erreicht.

Sturz im Kampf um die Bergwertung

Sturz im Kampf um die Bergwertung

Foto: Christophe Petit Tesson / EPA

Vorsicht Sturzgefahr: Die erste Etappe ist fast immer von einem Wort geprägt: Nervosität. So häufig gibt es, weil sich das Feld noch nicht so richtig an den Tour-Rhythmus gewöhnt hat, bei den Startetappen Stürze, auch diesmal: Im Kampf um die zweite Bergwertung stürzten die beiden Führenden im Sprint, Benjamin Thomas und Matteo Vercher, auf einer Kopfsteinpflaster-Passage, beide konnten weiterfahren. Die Angst vorm Sturz im Feld war zwischenzeitlich geradezu spürbar. Eine der Etappen mit dem alten Tour-Bonmot: Ein Tag, an dem man die Tour nicht gewinnen, aber sie verlieren kann. Zeitfahrspezialist Filippo Ganna ist der erste, der die Tour am Nachmittag aufgeben musste.

Land und Leute: Lille, die wunderschöne Metropole im Norden, nur ein paar Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Zentrum der Textil- und Kohleindustrie in der Vergangenheit, Stadt des Palais des Beaux Arts, dem nach dem Louvre zweitgrößte Kunstmuseum Frankreichs. 100.000 Studierende in der Stadt und die Geburtsstadt des großen Charles de Gaulle, des auf andere Art ebenso großen Philippe Noiret, aber auch der Fußballhelden Didier Six und Raphaël Varane. Aus der Region stammt auch der Napoleon des Fußalls, der legendäre Raymond Kopa.

Tour-Begeisterung in Lille

Tour-Begeisterung in Lille

Foto: Christophe Petit Tesson / EPA

Alte Radsport-Tradition: Lille verbindet man vielleicht nicht sofort mit Radsport, den Ort, der nur zehn Kilometer entfernt liegt, umso mehr. Die Nachbarstadt heißt Roubaix, und dann geht sofort die Gedankenkette im Kopf los: Kopfsteinpflaster, Hölle des Nordens. Für die Geschichtsfreaks: Roubaix und Lille waren Ende des 19. Jahrhunderts die ersten französischen Städte mit einem sozialistischen Bürgermeister.

Bon Appetit: Wer Tour de France guckt, guckt auch immer mit laufendem Wasser im Munde. Weil Belgien nicht weit ist, gibt es hier im Grunde zu allem Pommes: Pommes mit Fleisch bei der Flämischen Karbonade, einem Schmortopf, Pommes mit Muscheln, Pommes mit Pommes. Und hinterher Waffeln, auch ein belgisches Kulturgut oder die Betise de Cambrai, zuckersüße Bonbons in allen denkbaren Geschmacksrichtungen. Dazu: Bier. Ebenfalls in sämtlichen Geschmacksrichtungen.

Erkenntnis der Etappe: Das Gelbe Trikot wird schnell wechseln. Womöglich schon am morgigen Sonntag.

So geht’s weiter: Am Sonntag wird es erstmals etwas hügelig. Die Bergspezialisten werden noch milde lächeln über die 212 Kilometer von Lauwin-Planque bis Boulogne-sur-Mer, aber der Tag wird eher etwas für die Ein-Tages-Fahrer, die gewohnt sind, viele Kilometer Tempo zu bolzen als für die Sprinter. Die Nähe zum Kanal sorgt zudem für einen unwillkommenen Begleiter: den Seitenwind.

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