Er war eine Erscheinung, bei der sich eine asthenische, mit zunehmenden Jahren fast fragil scheinende Konstitution mit charakterlicher Geradlinigkeit paarte, die durchaus tolerant gegenüber anderen Ansichten, aber in ihren eigenen Grundprinzipien konsequent bis zum Unerbittlichen sein konnte. Das machte Siegfried Thiele, 1934 in Chemnitz geboren und dann lebenslang dem sächsischen Musikraum treu geblieben, nicht nur zu einem gefragten, von vielen seiner Schüler verehrten Lehrer, sondern auch zu einem ebenso pragmatisch wie einfühlsam agierenden Moderator, als es in den frühen 1990er Jahren darum ging, die Leipziger Musikhochschule als Rektor auf die neuen Anforderungen nach dem Wiedergewinn der deutschen Einheit einzustellen.
Dabei halfen nicht nur seine charakterlichen Qualitäten, sondern auch eine tiefe Vertrautheit mit dem Haus, dem er seit 1953 als Student, dann ab 1962 als Lehrender angehört hatte; mit einer Professur musste er, wegen seines christlich grundierten Nonkonformismus in der DDR misstrauisch beäugt, bis an die Schwelle des sechsten Lebensjahrzehntes warten, war aber dann für seine Schule genau der richtige Kopf zur richtigen Zeit und blieb es noch – dem Haus schließlich volle 45 Jahre verbunden – bis 1999.
Kompositorisch war Thiele ein ausgesprochen gründlicher, sorgfältig kalkulierender und, eigenen Worten nach, „die Töne befragender“ Künstler: jedem Geniekult fremd, handwerklich geprägt ohne dogmatische Verengung. Das machte ihn in Jahrzehnten, deren musikalische Entwicklung in beiden deutschen Staaten die Gefahren blutloser, alle Klangsinnlichkeit aushöhlender Abstraktionen einerseits und andererseits die einer freischwebenden Regelfreiheit brachten, die schnell ins Beliebige umschlagen konnte, zu einem ruhenden Pol im Disput der widerstreitenden ästhetischen Positionierungen. Sein besonderes Interesse galt der Vokalmusik, und spätestens mit seinen „Gesängen an die Sonne“, die 1981 zur Eröffnung des Neuen Gewandhauses in Leipzig erklangen, fand er damit auch international Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite schuf er eine lange Reihe von Kompositionen für die Liturgien der Christengemeinschaft, der er sich verbunden fühlte: Musik in dienender und dabei seelisch aufbauender Funktion – ein Credo, das für ihn in einer selten zu findenden Einheit von Demut und Selbstbewusstsein, kreativer Konzentration und pädagogischem Ethos auch generell prägend war. Am 24. November ist der Künstler 90-jährig in der Stadt seines jahrzehntelangen Wirkens gestorben.