Damit, dass die Tänzer Zähne zeigen, ihre Hände vorweisen und im Profil zeigen, wie ein Ruck durch den Körper geht, wenn man Haltung annehmen muss, beginnt Meryl Tankards intelligente, witzige, wirklich kunstvolle Bearbeitung eines der berühmtesten Tanztheaterstücke der Welt, Pina Bauschs „Kontakthof“.
Die Premiere ihrer Version, in der ein Teil der Originalbesetzung von 1978 das Ensemble bildet und sich und das Publikum mit berückend schönen SchwarzWeiß-Filmaufnahmen seiner selbst von damals konfrontiert, fand jetzt im Wuppertaler Opernhaus statt, wo Bauschs Weltruhm 1973 begründet wurde. „Kontakthof – Echoes of ’78“ hat Tankard die Aufführung genannt, die weit mehr ist als ein einfaches Reenactment, die recht eigentlich Werkcharakter hat. Die Regisseurin, damals wie heute tanzend auf der Bühne, hat durch die Gegenüberstellung teils überlebensgroß projizierter Filmaufnahmen mit den heute zwischen 69 und 81 Jahre alten Tänzern des frühen Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch eine Sternstunde tanzhistorischer Einsicht geschaffen und zugleich einen unterhaltenden, an manchen Stellen tieftraurigen Abend.
Die alten Tänzer machen, indem sie sich mit ihrem jüngeren Selbst synchronisieren, sozusagen gegen sich selbst von vor 46 Jahren antreten, einen unglaublich guten Job. Nur an einer Stelle erlaubt ihnen die Inszenierung eine kleine Kapitulation: Als der Tanz sehr schnell, fast hektisch wird, bleibt es allein den filmischen Abbildern vorbehalten, ihre Haare fliegen zu lassen und umher zu hasten. Das ist auch in Ordnung. Aber in jeder anderen Minute des Stücks zieht dieses wiedervereinigte Ensemble absolut alle im Haus in ihren Bann. Und mit welchen phantastischen Körpern! Ohne zu wissen, wie viele Schmerzmittel da womöglich im Spiel sind, muss man die Leichtigkeit dieser Tänzer einfach bewundern.
Präsenz und Ausstrahlungskraft des Ensembles
Sie sind präzise, ausdauernd und virtuos. Bei allem Ernst stellen sie sich gelegentlich mit einem Hauch von Selbstironie neben ihre eigene Geschichte. Die Idee dieses Miteinanders von Gestern und Heute, von Film und Theater ist, wie viele der genialsten Ideen, total einfach, natürlich. Pina Bausch, heißt es, soll sich damals vorgestellt haben, wie es wohl wäre, die Originalbesetzung dreißig Jahre nach der Premiere am 9. Dezember 1978 noch einmal im „Kontakthof“ antreten zu lassen.
Und hier kommt Meryl Tankard ins Spiel, die daraus etwas Neues macht, das auf einzigartige Weise hilft, das Alte zu verstehen. Spät in ihrer Karriere als Tänzerin und Choreographin hat die Australierin Filmregie studiert, und man sieht, mit welchem Können, mit welchem Sinn für Timing sie die Bilder der alten Aufführungen montiert hat, mit welchem Verständnis auch für die Ästhetik der Filme, die allesamt Pina Bauschs erster Bühnen- und Kostümbildner, der 1980 verstorbene Rolf Borzik, aufgenommen hatte. Sie habe ein regelrechtes „Drehbuch“ für ihre Aufführung verwendet, schreibt Tankard im Programmheft. Ausgangsmaterial waren 24 unbearbeitete Archivbänder, die sie sichten, schneiden und neu montieren konnte, wobei sie aus einem Stück von ursprünglich drei Stunden Aufführungsdauer nun einen Abend von 90 Minuten zusammengestellt hat.
Diese neunzig Minuten vergehen nicht nur wie im Flug durch die Essenz von Pina Bauschs Ästhetik, sie bringen so viele Themen auf und zeigen dank der Präsenz und Ausstrahlungskraft des Ensembles nicht zuletzt, was Tanz alles vermag, worin die Schönheit des Tanzes eigentlich liegt. Das kommt fast ein bisschen überraschend, schließlich ist es ja Tanztheater, die Form, die Bausch erfunden hat, und in der Bewegung sehr reduziert. Im Ergebnis ist es manchmal fast überwältigend.
Stockenten und ihre Küken
Wenn etwa die Tänzer Passagen tanzen, in denen ihre Partner von früher auf der Bühne fehlen, und man die Toten und Abwesenden gleichzeitig im Film sieht, die phantastische Silvia Kesselheim etwa. Beatrice Libonati gesteht auf der Bühne an einer der wenigen Stellen, an denen Tankard Texte von heute hinzufügt, wie sehr sie ihren Mann liebt und vermisst, das war Jan Minarik, der vielleicht beste Tänzer Pina Bauschs aller Generationen. 1978, im fünften Jahr der von Ballett in Tanztheater umbenannten Wuppertaler Company, war alles von Bausch noch ungeheuer neu und aufregend. Tänzer, die von sich selbst redeten und damit ihrem Publikum aus der selbstbefreiten Seele sprechen wollten, das gab es bis dahin nicht; Tänzer, die wie in der Eingangsszene ihre eigene, auf mitunter schmerzhafter Disziplin beruhende Kunst als Abrichtung oder Zurichtung thematisierten. Tänzer, die mit dem Publikum flirteten und in der nächsten Sekunde hysterisch lachend herumrannten, wie um zu zeigen, dass man die menschlichen Bewusstseinsströme, wie sie durch James Joyce’ „Ulysses“ flossen, auch tanzen konnte.
Eine Rolle musste keiner mehr tanzen, es konnten die eigenen, in Ausdruck gegossenen Erlebnisse sein, es musste keine klassische Musik erklingen, sondern man konnte Schlager und Lieder und Symphonisches mischen. Das Stück musste auch keinen hochkulturellen Titel tragen. Wie wollte Bausch „Kontakthof“ verstanden wissen, wirklich in Anlehnung an den Platz in Bordellen, an dem der Erstkontakt mit den Kunden stattfindet?
Das Bühnenbild sieht so nicht aus. Borziks grauer Raum mit Wandtäfelung, alten Fenstern und Türen sowie einem Vorhang, der eine Bühne wie die einer Schulaula verschließt, ist einfach die Welt, die Gesellschaft. Hier laufen die Kontaktsuchenden durch die geschlossene Veranstaltung, als die ihr Leben sich präsentiert. Stöckelschuhe ausziehen ist schon das Natürlichste, was sie machen. Alles andere ist Kultur, ist Sozialisation. Natur ist nur in Form eines sehr kurzen Lehrfilms repräsentiert, der Stockenten und ihre Küken zeigt.
Als ob das alles nicht genügen würde, um den Klassikerstatus von Bauschs „Kontakthof“ neu zu definieren, als Beschreibung unserer Fesseln und Hommage an die Befreiung, als ein Ja dazu, „paranoid“ und „misanthrop“ zu sein – unter anderem –, trifft einen eine Erkenntnis wie ein Schlag. Was, wenn sich die emanzipatorischen und feministischen Anteile in der Rezeption vor etwas ganz anderes geschoben hätten, nämlich die seelische Realität und Gefühlswelt der Kinder der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit in Deutschland?
Bausch ist Jahrgang 1940. Daran, wie traumatisierend es sich angefühlt haben mag, als Kind in der Nazizeit und kurz danach aufzuwachsen, erinnert das Stück heute an verschiedenen Stellen, nicht nur in dem Moment, wenn alle schwarz gekleidet mit hängenden Köpfen bewegungslos und stumm auf der Bühne stehen.