Und dann kamen die Tage, an denen polnische Landwirte mehrere Lebensadern der ukrainischen Wirtschaft abschnitten. Vor bald eineinhalb Jahren eskalierte der Streit um Agrarimporte aus dem östlichen Nachbarland, das sich seit Februar 2022 gegen die russische Aggression wehrt. Bauern hielten Güterzüge an der Grenze auf, öffneten Waggons, ukrainischer Weizen ergoss sich aufs Gleisbett. Am wichtigen Grenzübergang Medyka fuhren sie mit Traktoren vor und verstellten die Straße, die Lkws stauten sich auf mehr als 40 Kilometern.
Um dem Land seine Exporteinnahmen zu sichern, während Russland anfangs die Schwarzmeerhäfen blockiere, hatte die EU-Kommission die Zölle auf ukrainische Produkte weitgehend ausgesetzt. Getreide, Geflügel und Ölsaaten gelangten zollfrei in die EU, zunächst in den Nachbarländern bekamen die Bauern massive Konkurrenz, die Preise verfielen – und es formierte sich Widerstand, vorübergehend stoppte die Kommission die Importe teilweise ganz. Eine Notlösung, mit der die sie den Transit garantieren wollte, damit die Produkte über Polen, Rumänien oder Ungarn hinaus in die restliche EU und in die Welt gelangen konnten, funktionierte nicht recht. Im Frühjahr vor einem Jahr verständigten sich die EU-Länder auf Höchstmengen für die zollfreie Einfuhr und entschärften so den Zwist mit ihren Landwirten.
Die Ukrainer sollen auch wieder Zugang zu ihren traditionellen Drittmärkten finden
Jetzt soll eine dauerhafte Lösung her. Seit einem Monat greift das frühere Zollregime wieder, das seit Juni 2022 stets nur für ein Jahr ausgesetzt war. Am Montag verständigten sich die Ukraine und die EU-Kommission auf eine Überarbeitung ihres bisherigen Handelsabkommens, mit der beide Seiten die Kompromisslösungen ersetzen wollen. Der für den Handel zuständige EU-Kommissar Maroš Šefčovič sagte, das „ausgewogene, faire und realistische“ Abkommen schlage ein neues Kapitel in den Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Ukraine auf – und betonte, dass es auch die Interessen der EU-Landwirte schütze.
Vorgesehen ist, den EU-Binnenmarkt für bestimmte ukrainische Produkte vollständig zu öffnen, darunter Traubensaft oder fermentierte Milch. Für andere Warengruppen legt das Abkommen Quoten fest, die sich am höchsten Stand der Einfuhren in den vergangenen Jahren orientieren, so im Fall von Hafer und Magermilchpulver. Jene Güter, wegen derer europäische Landwirte protestierten – etwa Weizen und Mais, Zucker, Geflügel oder Eier – sind die Höchstmengen deutlich geringer.
Die EU möchte ukrainischen Exporteuren außerdem dabei helfen, wieder Zugang zu ihren traditionellen Drittmärkten finden können, unter anderem mit logistischer Unterstützung. Die Ukraine wiederum sagte zu, ihren Markt für Geflügel, Schweinefleisch und Zucker aus der EU zu öffnen.
Mit dem überarbeiteten Abkommen vertiefen die im Krieg verbundenen Partner ihre Handelsbeziehungen. Die Kommission will die Einigung auch als Signal für die immer engere Bindung der Ukraine an Europa verstanden wissen. Das langfristige Ziel ist eine Integration des Landes in den europäischen Binnenmarkt, die mit einem EU-Beitritt vollendet würde. Kiew muss fortan jährlich darüber berichten, inwieweit sich die Ukraine bei den Produktionsstandards, dem Tierwohl oder dem Einsatz von Pestiziden an EU-Regeln angenähert hat.
Falls ukrainische Importe zu Problemen auf dem Markt führen, könnte Brüssel einschreiten
Das Handelsabkommen wird damit zum Hebel für die Angleichung an den „acquis communautaire“, also das für alle Mitgliedstaaten verbindliche EU-Recht – und die Voraussetzung dafür, dass die Ukraine eines Tages tatsächlich Mitglied der Union werden kann.
Um der Skepsis einiger EU-Länder und ihrer Bauernverbände Rechnung zu tragen, sind neue Schutzklauseln im Abkommen vorgesehen. Falls der gegenseitige Handel die Preise zu stark verzerrt, dürfen beide Seiten jeweils vorübergehend den Warenaustausch einschränken. Für die EU bedeutet das: Wenn in Polen oder Frankreich massive Einfuhren ukrainischen Getreides zu sozialen oder wirtschaftlichen Problemen führen, kann Brüssel handeln – selbst wenn nicht der gesamte Binnenmarkt betroffen ist. Es würde schon reichen, wenn nur ein Mitgliedstaat derlei anmeldet.
Für die Ukraine ist das Abkommen überlebenswichtig. Das Land ist eine Agrar-Supermacht und unter anderem der weltweit größte Exporteur von Sonnenblumenöl und -schrot. Die EU ist der größte Handelspartner, sie steht für die Hälfte des ukrainischen Warenhandels. Beide Seiten hatten 2014 nach der russischen Invasion der Halbinsel Krim jenes Handelsabkommen unterzeichnet, das sie nun überarbeiten. Es war 2016 vorläufig in Kraft getreten. Die technischen Details der Vereinbarung werden noch ausgearbeitet. Anschließend muss der Rat der Mitgliedstaaten dem Abkommen zustimmen, bevor der Assoziationsausschuss der EU und der Ukraine die Reform offiziell verabschieden kann.