Eine der beliebtesten Feen der an überirdischen Erscheinungen reichen Welt der Ballette des 19. Jahrhunderts ist die Zuckerfee aus Tschaikowskys Ballett „Der Nussknacker“. In Rom erlebte sie jetzt an der Oper in Gestalt der vierundzwanzigjährigen amerikanischen Ballerina Chloe Misseldine eine besondere Wiedergeburt. In Misseldines technisch makelloser Interpretation erfüllen sich die Konfigurationen der klassischen Tanzkunst eindrücklich. Sie spielt nicht, sie lässt in ihrem außergewöhnlichen Tanz die Eigenschaften ihrer Figur körperlich sichtbar werden. Sie ist die Majestät im Reich der Süßigkeiten und zugleich Chloe aus Orlando, Florida, die seit ihrem vierten Lebensjahr in diese Kunst hineinwächst – und der zweifelsohne eine große Karriere bevorsteht.
Zu ihrem „Tanz der Zuckerfee“ spielt die Celesta ihre himmlisch leicht dahintänzelnde Musik wie immer, aber Misseldines Tanz transzendiert diese musikalische Paradenummer und gibt uns das Gefühl, etwas über die Tänzerin und die Fee zu erfahren, die Fee in der Ballerina zu erkennen. Die Fee in ihrer Großzügigkeit, die den Menschen die Augen öffnet für das Licht, für die Erkenntnis, für die Schönheit, ist identisch mit der Ballerina. Mit Jacopo Tissi als ihrem Kavalier tanzt sie den Grand Pas de deux im zweiten Akt, als wäre es ein Kuss im Winterwald, dieser Höhepunkt klassischen Tanzens in dem geheimnisvollen, auf E.T.A. Hoffmann beruhenden Ballett, das zum ersten Mal in Marius Petipas und Lew Iwanows Choreographie am 18. Dezember 1892 in St. Petersburg gezeigt wurde.
Auf Affenhänden getragen
In allen Ländern, in denen der Nussknacker seither sein verzaubertes Wesen treibt, trägt die Zuckerfee leicht abweichende Namen: Auf Französisch heißt sie Fée Dragée, in den Vereinigten Staaten „Sugar Plum Fairy“. Zu anderen Ballett-Inszenierungen reist das Publikum an, der „Nussknacker“ hingegen ist eine lokale Tradition, er kommt zu den Menschen. Wenn man Glück hat. So ist in Deutschland um Weihnachten und den Jahreswechsel herum John Neumeiers berühmte Version von 1971 ganz im Norden und ganz im Süden zu sehen, mit dem Hamburg Ballett selbst und in München mit dem Bayerischen Staatsballett. Neumeiers Fassung bringt die Geschichte in Berührung mit der Ballettwelt, er erzählt vom Weihnachtsfest und dem Lebendigwerden des geschenkten Nussknackers, und zugleich reflektiert er die Schönheiten des Tanzens als Kunst und Beruf.
Die Südkalifornier schauen im Segerstrom Center for the Arts dem aus New York angereisten American Ballet Theatre (ABT) in Alexei Ratmanskys geistreicher und luxuriöser Inszenierung zu. Als eine von fünf Ersten Solistinnen der neben dem New York City Ballet berühmtesten amerikanischen Ballett-Company tanzte Chloe Misseldine darin die „Sugar Plum Fairy“. Im Anschluss an diese vorweihnachtlichen Vorstellungen im sonnenerfüllten Costa Mesa bestieg sie ein Flugzeug, um nach 13 Stunden und 25 Minuten in Rom zu landen und sich einen Tag später auf der Opernbühne in die „Fata Confetto“, wie die Zuckerfee in Italien genannt wird, zu verwandeln.
Ikonische Momente
Das Opernballett Roms unter der Leitung von Eleonora Abbagnato, die früher Etoile an der Pariser Oper war, tanzt aber nicht Ratmanskys Version, sondern hat mit Paul Chalmers Choreographie „Lo Schiaccianoci“ eine wunderschöne eigene im Repertoire. Der Kanadier, der ein weltweit gastierender Startänzer war, das Opernballett in Leipzig leitete und seither in ganz Europa als Gastchoreograph und Ballettmeister arbeitet, hat sich für das Entrée seiner „Fata Confetto“ etwas Besonderes ausgedacht. Sie wird von den „Tre Scimmie“ umtanzt und auf Affenhänden getragen. Chalmer lässt sie antanzen wie die drei berühmten Affen, die nichts Böses hören, sehen und sagen: Einer hält sich die Ohren zu, einer die Augen, einer den Mund. Kostümbildner Gianluca Falaschi hat ihnen herrliche Schimpansenmasken entworfen, ihre Köpfe krönt ein schräg sitzender, kleiner Fes, der von den riesigen Ohren, so sieht es aus, am Herabrutschen gehindert wird. Ihre im selben Violett gehaltene und mit goldenen Posamenten verzierte Lakaien-Uniformjacken tragen sie zu Harlekin-Beintrikots, deren blaue und rosafarbene Rhomben auf weißem Grund wie handgemalt aussehen, wie von Picasso.
Dies sind ikonische Momente in Chalmers an solchen hintergründigen Motiven reicher, bezwingender erzählerischer Logik folgender Inszenierung. Wie bei Picasso verkörpern diese Affen-Harlekine den Künstler selbst, hier den Choreographen. Er bewegt sich zwischen Melancholie und Empathie angesichts des Leids in der Welt und dem Impuls, mit der Schönheit des Balletts, seinen festlichen und großzügigen, animierten und beglückenden Aspekten einen Gegenpol zu schaffen.
Alessio RezzaFabrizio Sansoni/Teatro dell’Opera di RomaDas ist der Sinn der Geschichte des Nussknackers als Ballett zu Weihnachten. Chalmer gibt der realen Welt, in der eine große Familie sich um den Baum versammelt und in der die Kinder zuvor über einen Weihnachtsmarkt voraustoben, den Schimmer der Erinnerung daran, wie schön Weihnachten als Kind sein konnte. Und er entwirft eine Traumwelt, in die das Mädchen Clara mit ihrem lebendig gewordenen Spielzeug-Nussknacker-Mann in einem Heißluftballon reist, in einen Schneesturm, einen Tanz der Schneeflocken gerät und später zwischen die Mirlitons und die sich im Walzer neigenden Blumen. Je nachdem, ob der Tanz von Kaffee oder Tee handelt, den Weihnachtsverwöhnungen von früher, verwandelt sich die Rückwand mit Projektionen in farbig unterschiedliche leuchtende Glasfenster. Auch Schneeflocken sahen noch nie so echt aus.
Und in die Mitte von Andrea Miglios großartigen Szenenbildern tritt dann diese auf Spitze 1,80 Meter große Ballerina, deren chinesische Mutter Yan Chen selbst eine Solistin am American Ballet Theatre war, bevor sie einen amerikanischen Geschäftsmann heiratete und nach Florida zog. Anfangs, erzählt Chloe Misseldine am Morgen nach der Premiere in ihrer Garderobe, die nach der des Dirigenten Nir Kabaretti die Zweite auf dem Gang ist, sei sie gar nicht so wild aufs Tanzen gewesen. Erst mit zwölf, dreizehn Jahren, als sie in der Orlando Ballet Company erste Rollen tanzte, habe sie gewusst, dass sie Tänzerin werden möchte. Bereits mit 22 Jahren wurde sie nach einer „Schwanensee“-Vorstellung an der Met zum „Principal Dancer“ des ABT ernannt.
Im historischen Gebäude der römischen Oper steht sie am Morgen vor der Premiere auf einer mit fünf Prozent Neigung zum Zuschauerraum hin schrägen Bühne und lässt sich zeigen, wie man sich hier einfach ganz leicht mit dem Rücken wie gegen eine imaginäre Wand lehnen muss, um in den Pirouetten nicht umzufallen. Am Premierenabend sieht man nicht das leiseste Zögern. Man muss das sehen: wie sie das als machtvolles Zentrum von Chalmers phantastischer Inszenierung macht, die Klassik des Tanzes lebendig, sagenhaft und zeitgenössisch wirken zu lassen. Beim Tanz, so Walter F. Ottos Theorie, handele es sich um „festliche Selbstdarstellungen“, nicht vor Menschen, nicht um von Göttern Gunstbezeugungen zu erreichen, sondern um sich auf das Göttliche hinzubewegen. Einige Ballerinen erinnern uns stärker daran als andere.

vor 2 Tage
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