Wahl in Irland: Ein wütender Premier im Supermarkt

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Simon Harris hat in Irland einen Spitznamen, der bis vor Kurzem schmeichelhaft war für ihn. Bis vergangenen Sonntag, genau genommen. Harris ist der irische Taoiseach, seit den 1930er-Jahren ist das gälische Wort für „Anführer“ als Bezeichnung für den Regierungschef in der Verfassung verankert (seitdem scheitern immer wieder Nicht-Iren an der Aussprache, korrekt wäre in etwa „tieschack“, in manchen Regionen auch „tieschach“, wobei das „a“ fast wie ein „o“ gesprochen wird). Mit 37 Jahren ist Simon Harris der jüngste Regierungschef in der irischen Geschichte, er gilt als guter Kommunikator, der gerade Jüngere anspricht, und wegen seiner Social-Media-Affinität nennen ihn die Medien „Tiktok Taoiseach“. Nur, auf Social Media können sich Stimmungen schneller drehen als der Wind an der irischen Küste. Für Harris ist das jetzt besonders ungünstig: An diesem Freitag wird gewählt in Irland.

Harris ist der Chef der Partei Fine Gael, die seit fast 14 Jahren Teil der irischen Regierung ist, er war im April dem aus persönlichen Gründen zurückgetretenen Leo Varadkar nachgefolgt. In den Umfragen lag Fine Gael bis vor Kurzem vorn – Harris hatte auch deshalb eine Neuwahl ausgerufen, weil seine Beliebtheit eine solide Basis zu haben schien, den Regierungsauftrag an seine Partei und insbesondere ihn zu erneuern. Der sogenannte „Harris Hop“ in den Umfragen aber wurde am vergangenen Sonntag zum „Simon Slump“, und zwar wegen eines kurzen Moments, der danach millionenfach angeklickt wurde, auch auf Tiktok.

Hat Harris’ Partei den Sender gebeten, das Video verschwinden zu lassen?

Harris traf am Ende eines langen Wahlkampftages in einem Supermarkt in Kanturk im County Cork auf eine Pflegekraft namens Charlotte Fallon, die sich beschwerte, seine Regierung tue nichts für behinderte Menschen. Der sichtlich angefasste Harris murmelte immer wieder: „Das stimmt nicht.“ Irgendwann schüttelte er ihr genervt die Hand und drehte sich um, woraufhin ihm Charlotte Fallon hinterherrief, er solle ruhig weiter Hände schütteln und weggehen. Harris blieb abrupt stehen und ging noch mal einen Schritt auf sie zu, es waren nur ein paar Sekunden, aber er wirkte so wütend, dass man fast erschrickt, wenn man das Video des stets sachlichen Taoiseachs sieht.

Am Montag entschuldigte sich Harris, aber im ansonsten eher zähen irischen Wahlkampf ist dieses Video nun zum Hauptthema geworden. In den Umfragen ist der – wenn auch meist knappe – Vorsprung von Fine Gael so drastisch eingebrochen, dass die Partei nur noch auf Rang drei liegt. Zumal der Umgang der Partei mit dem Video auch nicht gerade souverän wirkt: Am Dienstagabend, bei der zweiten und letzten TV-Debatte der Chefs der drei größten Parteien, wurde Harris gefragt, ob es stimme, dass sein Team den TV-Sender RTÉ, der im Supermarkt dabei war und den Vorfall filmte, kontaktiert und gebeten habe, das Video verschwinden zu lassen. Harris dementierte das, aber oft ist es ja schon zu spät, wenn die Frage gestellt ist.

Der Umgangston der Parteien ist so korrekt – Polarisierung ist hier eher kein Thema

Und doch ist es wahrscheinlich, dass Simon Harris und Fine Gael am Freitag wieder in die irische Regierung gewählt werden. Zur Wahl stehen zwar mehrere Parteien, und im irischen Parlament sitzen derzeit neun Parteien und mehrere Parteilose. Seit der ersten Wahl nach der irischen Unabhängigkeit 1922 aber hat immer entweder Fianna Fáil oder Fine Gael (oder deren Vorgängerpartei) gewonnen – also eine der beiden Mitte-Rechts-Parteien. Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren schob sich Sinn Féin, einst politischer Arm der Terrorgruppe IRA, als Links-Partei zwischen die beiden. Sinn Féin wurde nur knapp Zweiter, und danach war die Partei der Spitzenkandidatin Mary Lou McDonald eine Zeit lang sogar führend in den Umfragen.

Sinn Féin unterstützt eine irische Wiedervereinigung mit Nordirland. Für die Wähler sind inzwischen aber andere Themen wichtiger, eben jene, die derzeit so viele Wahlkämpfe bestimmen: Energiekosten, Lebenskosten, Wohnungsbau und Immigration. Gerade letzteres Thema, in anderen Ländern oft von Rechtsparteien zur Profilierung genutzt, dürfte auch in Irland eine gewichtige Rolle am Wahltag spielen. Mit einem entscheidenden Unterschied zu Ländern wie Deutschland oder Großbritannien: Eine nennenswerte, weit rechts stehende Partei gibt es in Irland nicht, und die drei größten Parteien legen bisher derart großen Wert auf einen korrekten Umgangston, dass es auch keine Polarisierung der Bevölkerung gibt.

Fine Gael und Fianna Fáil distanzieren sich allerdings bisher klar von Sinn Féin. Simon Harris hat ebenso wie Fianna-Fáil-Chef Micheal Martin ausgeschlossen, eine Koalition mit Sinn Féin zu bilden. Dass eine Koalition nötig sein wird, steht außer Frage, seit 1989 besteht die irische Regierung ausnahmslos aus mehreren Parteien; aktuell aus Fianna Fáil, Fine Gael und den Grünen. Bei der letzten Wahl 2020, die als „historisch“ eingestuft wurde, trennte Fianna Fáil und Sinn Féin am Ende nur ein einziger Sitz im Unterhaus.

Sollte Sinn Féin diesmal doch wider Erwarten auf Platz eins landen, könnte die 55-Jährige Mary Lou McDonald die erste Sinn-Féin-Taoiseach Irlands seit der Unabhängigkeit werden. Sie wäre zudem die erste Frau im Amt. Einen Tiktok Account hat sie natürlich auch längst.

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