EU-Staats- und Regierungschefs Christodoulides, Macron, Merz: unbefriedigender Abend
Foto: Geert Vanden Wijngaert / APIm hörsaalgroßen Pressesaal des Europäischen Rats machte der ukrainische Regierungschef Wolodymyr Selenskyj noch mal deutlich, worum es bei diesem Gipfel geht. Am Tag zuvor hätte die russische Armee einen Kindergarten angegriffen. Eine der größten Armeen der Welt kämpft gegen ukrainische Kinder, so Selenskyj.
»Sie müssen für diesen Krieg bezahlen«, so Selenskyj. Da sei es eine »great decision«, eine großartige Entscheidung, dass die EU die rund 140 Milliarden Euro eingefrorenes russisches Staatsvermögen nutzen will, um der Ukraine weitere Kredite zu gewähren. Denn später, so die Logik, müsse Russland ja ohnehin Reparationsleistungen an die Ukraine zahlen. »Great«, das Lieblingswort des US-Präsidenten Donald Trump. Dabei ist, als Selenskyj am Nachmittag spricht, noch nichts Großartiges entschieden.
Im Laufe des Abends wird der ukrainische Regierungschef dann enttäuscht. Erwartet wurde für den Gipfel eine klare politische Einigung für die Nutzung des russischen Staatsvermögens, so wie es Selenskji als ausgemachte Sache darstellte.
Abschwächung des Einigungstexts
Doch im Text, den die Staats- und Regierungschefs schließlich am Donnerstagabend beschlossen haben, klingt das ganz anders, vorsichtiger. Von der Nutzung des russischen Staatsvermögens ist plötzlich nicht mehr explizit die Rede, auch der dringende Gesetzesauftrag an die EU-Kommission fehlt im Abschlusstext. Es hieß nur noch, die Behörde werde »eingeladen«, neue »Optionen« für Finanzierungshilfen an die Ukraine zu finden. Der letzte Textentwurf, der noch am Morgen in Brüssel kursierte, war wesentlich deutlicher.
Dass die Nummer kein Selbstläufer wird, zeichnete sich bereits ab. Schon als noch US-Präsident Joe Biden im Amt war, hatte er die EU immer wieder aufgefordert, das eingefrorene Geld Russlands zu nutzen. Doch die EU stellte sich lange dagegen, unter anderem, weil sie fürchtet, der Euroraum könnte seinen Ruf als sicherer Hafen für ausländische Anleger verlieren. Zudem braucht es ein rechtlich höchst komplexes Gebilde, damit die Ukraine letztlich auf das Geld zugreifen kann. Lautester Bedenkenträger ist noch immer Belgien, das in die Haftung eingebunden ist, weil sich in Belgien Euroclear befindet, die Gesellschaft, die das eingefrorene Vermögen verwaltet.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte zu Beginn des Gipfels hohe Erwartungen geweckt. Es gebe zwar »ein paar ernst zu nehmende Einwendungen, über die wir sprechen müssen«, sagte Merz. »Das betrifft insbesondere den belgischen Staat und seine Haftung.« Doch er, der deutsche Kanzler, habe in den vergangenen Wochen gleich mehrmals mit dem belgischen Premierminister Bart De Wever über dessen Sorgen gesprochen. »Er ist an einer gemeinsamen Lösung interessiert«, berichtete Merz am Vormittag. »Deswegen gehe ich davon aus, dass wir heute einen Schritt weiterkommen.«
Stattdessen geht die EU an diesem Donnerstagabend nur einen kleinen Schritt voran. Merz rechtfertigte sich in der Pressekonferenz nach dem Gipfel. »Es gibt kein Vorbild, es gibt dazu keine Blaupause.« Insgesamt wirkte es, als ruderte er zurück. »Das müssen wir alle noch besprechen«, sagte er zu der möglichen Haftung für die nationalen Haushalte, wenn diese an Belgien Garantien geben.
Insgesamt war das keine gute Woche für den Außenkanzler Merz, der doch gerade auf europäischer Ebene so viel erreichen wollte – etwa beim Abbau der Bürokratie. »Ich mache mir allergrößte Sorgen um die Arbeitsplätze in ganz Europa in der Industrie«, sagte Merz mit ernster Miene am Beginn des Gipfels. Die europäische Industrie verliere »im Augenblick dramatisch« an Wettbewerbsfähigkeit. Einen Hauptgrund dafür sieht Merz in der EU-Bürokratie, die nach seiner Ansicht »zurückzubauen« sei.
Doch auch dieser Rückbau geht nicht so schnell voran, wie der Kanzler das gern hätte. So sollte das Europäische Parlament am Mittwoch über eine Abschwächung des EU-Lieferkettengesetzes und der Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung abstimmen. Doch die erwartete Mehrheit der sogenannten Plattform aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen stand nicht. Umweltverbände begrüßten dies als gute Nachricht für Naturschutz und Menschenrechte.
Merz stiftet Verwirrung bei Mercosur
Merz hingegen kritisierte die Entscheidung des Parlaments beim Gipfel als »inakzeptabel« und als »eine fatale Fehlentscheidung«, die korrigiert werden müsse. »Wir müssen jetzt mit den Fraktionen im Europäischen Parlament noch einmal sprechen, wie das geht, aber das kann so nicht bleiben«, tönte der Kanzler. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola ermahnte Merz kurz darauf, die Unabhängigkeit der gewählten Abgeordneten nicht infrage zu stellen.
Nein, es lief bei diesem Gipfel nicht alles am Schnürchen für Friedrich Merz.
Am Ende des Abends glaubte Merz, dann doch noch eine gute Botschaft verkünden zu können. Das Freihandelsabkommen mit mehreren südamerikanischen Staaten, das Mercosur-Abkommen – verhandelt mehr als 20 Jahre – soll überraschend auf diesem Gipfel abgenickt worden sein. »Alle zugestimmt, einstimmig zugestimmt, alle 27 haben zugestimmt«, verkündete Merz. »Es ist erledigt, es ist durch.« Auch auf Nachfrage verblüffter Journalisten hielt Merz daran fest.
Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron und Friedrich Merz (v.l.): »Die Arbeit geht weiter«
Foto: Yves Herman / REUTERSTatsächlich können nur die Handelsminister Mercosur beschließen, was allerdings noch nicht geschehen ist.
Ratspräsident António Costa stellte später klar, er habe lediglich die Staats- und Regierungschefs gebeten, mit ihren Botschaftern zu sprechen, um die technischen Probleme mit den Übersetzungen zu lösen, damit das Abkommen rechtzeitig unterzeichnet werden könne. »Aber das war es. Wir haben darüber nicht diskutiert. Wir haben keine Entscheidungen getroffen.«
Ähnlich überrascht zeigte sich Emmanuel Macron von den Äußerungen des Kanzlers. Der französische Präsident sagte vor Journalisten, dass es eine endgültige Antwort erst in den nächsten Wochen geben könne. Nichtsdestotrotz: »Die Arbeit geht weiter.«
Auch Österreich widersprach Merz noch während der laufenden Pressekonferenz am Abend und erklärte, Mercosur nicht zustimmen zu wollen.
Merz hatte wohl eine Abstimmung zu einem Termin gemeint, auf dem kurz vor Weihnachten tatsächlich das lang ersehnte Abkommen besiegelt werden soll. Im Dezember könnten dann auch ein weiterer Bürokratieabbau und das erhoffte Finanzpaket für die Ukraine beschlossen werden. Einen erfolgreichen EU-Gipfel könnte der Bundeskanzler gut gebrauchen, denn dieser war keiner.

vor 20 Stunden
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