Tyler R. und die Gamer-Kultur: Wie radikalisierte sich der Kirk-Attentäter?

vor 14 Stunden 1

Der mutmaßliche Attentäter von Charlie Kirk, Tyler R., beschriftete seine Pa­tronen mit Codes. „Notices bulges OwO what’s this?“ war auf der Hülse eingeritzt, deren Projektil den Republikaner und Trump-Freund Kirk tötete. Auf drei nicht abgefeuerten Patronen stand „If you read this, you are gay LMAO“, „Hey fascist! CATCH!“ gefolgt von Pfeilsymbolen und zuletzt eine Liedzeile aus dem italienischen Partisanenlied „Bella ciao“. Sätze, die für die meisten Menschen keinen Sinn ergeben, zumal in ihrer Widersprüchlichkeit.

Es sind Codes, die vor allem in bestimmten Subkulturen etwas bedeuten: So ist OwO etwa ein Emoticon, das insbesondere in Internetforen und in Gaming-Chats für aufgerissene Augen steht und durch Memes aus der Furry-Szene (Menschen, die sich als Tiere verkleiden) populär wurde.

„Hey Faschist! Fang!“ plus Tastenfolge verweist auf das vielfach als Satire gelesene Videospiel Helldivers 2, in dem man gegen riesige Alienkäfer und eine Roboterarmee kämpft. Dort löst die Pfeilsequenz oben, rechts, dreimal unten das Ablassen einer Bombe aus. „Wer das liest, ist schwul“ ist klassisches Edgelord-Trolling (nihilistische Provokation der Mitspieler im Gaming-Chat).

Groyper Army versus Charlie Kirk

Während bereits wenige Stunden nach dem Attentat im MAGA-Lager viele auf ihren Social-Media-Profilen verkündeten, der Täter stamme aus dem linken oder linksextremen Milieu – so schrieb etwa Elon Musk kurz nach der Tat auf der Plattform X (ehemals Twitter): „Die Linke ist die Partei des Mordes“, und die Trump-Influencerin Laura Loomer: „Wir müssen diese irren Linken auflösen“ und „die Linke ist ein nationales Sicherheitsrisiko“ –, setzt sich mittlerweile zunehmend die Deutung durch, Tyler R. könne aufgrund dessen, was im Internet über ihn zu finden ist, dem rechtsextremistischen Spektrum angehören; genauer noch: den Anhängern des Alt-Right-Nationalisten und Holocaustleugners Nick Fuentes, die sich selbst Groyper oder Groyper Army nennen.

DSGVO Platzhalter

Anhaltspunkte dafür finden sich etwa darin, dass Tyler R. vor einigen Jahren zu Halloween – für ein Bild, das seine Mutter auf ihrem Facebook-Kanal postete und witzelte, ihr Sohn verkleide sich als Meme – in einer Version von Pepe the Frog (einem Comicfrosch) in Slav Squat (Russenhocke) und Trainingsanzug posierte; eine Darstellung, die Groyper als Szenemarker nutzen. Hinzu kommt, dass Fuentes selbst nach dem Tod Kirks zurückwies, dass der Täter aus seinem Lager stamme – noch bevor diese Deutung überhaupt Schule gemacht hatte.

Instagram

Fuentes, der in seinen Videos rechtsextreme, ultranationalistische, antisemitische und sexistische Inhalte verbreitet, hatte mit seinen Anhängern bereits seit Jahren gegen Charlie Kirk mobilisiert. Seine Standpunkte waren ihm nicht rassistisch, nicht antisemitisch genug. Bereits 2019 rief Fuentes über Social Media seine Follower zu einer Kampagne gegen Kirk auf: Sie sollten kollektiv seine „Ask me anything“-Veranstaltung an Universitäten aufsuchen, um ihn mit Fragen aus dem Publikum seines falschen Nationalismus zu überführen. Eine Aktion, die als „Groyper War“ bekannt wurde.

Schlüssel zum Verständnis seiner Radikalisierung

Kirk wurde aber nur auf den ersten Blick wegen seiner Positionen zum Ziel der Groyper. Der größere Affront gegen Fuentes dürfte ein anderer gewesen sein: dass Kirk auf dem gleichen Spielfeld wie Fuentes um die Deutungshoheit rang: im Netz, im Reich der Memes und Algorithmen, in dem Sichtbarkeit mehr zählt als Wahrheit oder das bessere Argument.

 Seine Anhänger nennt er Groyper oder Groyper Army.Alt-Right-Influencer Nick Fuentes (Mitte): Seine Anhänger nennt er Groyper oder Groyper Army.Picture Alliance

Ein Halloween-Kostüm kann längst nicht beweisen, dass Tyler R. sich mit diesen Positionen identifizierte – oder ein rechtsextremer Nationalist wie Fuentes ist. Einen anderen Schluss lässt es zusammen mit den Gravuren auf den Patronen doch zu: Der mutmaßliche Mörder Charlie Kirks war tief in der Meme- und Gamer-Kultur sozialisiert, kannte ihre Codes, ihre Sprache und Akteure, teilte auf Projektilen ihren ideologischen Nihilismus.

Darin liegt der Schlüssel zum Verständnis seiner Radikalisierung: Dort geht es nicht primär um politische Parteien oder Lager, sondern darum, maximales Chaos in die gesellschaftliche Ordnung zu bringen – und damit größtmögliche algorithmische Resonanz zu erzeugen. Seine Tat war eine weitere Memefizierung von Gewalt, eine Art Real-Life-Hack: Er lenkte die Aufmerksamkeitsökonomie um; weg von Kirk, auf sich und seine Tat – die vor laufenden Handykameras viral ging.

Gesamten Artikel lesen