Theater in Wien: Wer nicht ausrastet, rostet

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„Auslöschung. Ein Zerfall“ war der letzte, 1986 veröffentlichte und mit rund 650 Seiten auch der umfangreichste Roman von Thomas Bernhard. In Rom als Literatur- und Philosophielehrer tätig, erhält der Ich-Erzähler Franz-Josef Murau ein Telegramm seiner Schwestern Cäcilia und Amalia, die ihm vom Tod der Eltern und des Bruders Johannes durch einen Verkehrsunfall berichten. Sich permanent an seine ihm fremd gewordene Familie und sein bisheriges Leben erinnernd, fährt er nach Wolfsegg in Oberösterreich, seiner ursprünglichen Heimat, um am Begräbnis teilzunehmen. Im letzten Satz des Romans erfährt man dann noch vom Tod Muraus.

Vor knapp einem Jahr feierte das Burgtheater mit „Holzfällen“, einer musikalisch untermalten Lesung aus dem gleichnamigen Bernhard-Roman, einen großartigen Überraschungserfolg. Nun bringen Therese Willstedt (Regie) und Jeroen Versteele (Dramaturgie) „Auslöschung. Ein Zerfall“ mit einem achtköpfigen Ensemble auf die Burgbühne. Diesmal keine Lesung, aber ebenfalls hin und wieder musikalisch untermalt, oder sagen wir: mit gruselig an ländliche Blasmusik erinnernden Musikszenen unterspielt.

In Lederhosen zum Glück

Auf der als rot tapezierter Freitreppe eingerichteten Bühne (Mårten K. Axel­sson) wechseln sich – hier in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt – Aaron Blanck, Norman Hacker, Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Seán McDonagh, Jörg Ratjen, Andrea Wenzl und Ines Marie Westernströer ständig als sich erinnernder „Murau, Franz-Josef“ ab, hüpfen, ja tanzen die steile Stiege rauf und runter, verkleiden sich zur Verstärkung des Eindrucks mal in Dirndlkleidern, in Lederhosen oder auch Priestersoutane. Am Anfang steht gar ein Exemplar des Romans in der Mitte der Treppe, und alle acht verweisen stets mit Handdeutung beziehungsweise wer auch immer gerade am Wort ist mit dem Spruch „schreibt Murau, Franz-Josef“ darauf.

 Szene aus „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos"Kopfüber: Szene aus „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos"Tommy Hetzel

Das funktioniert erstaunlich gut, ist sogar recht unterhaltsam, selbst von der überragenden Leistung des Ensembles einmal abgesehen. Während logischerweise der Inhalt auf knapp weniger als drei Stunden, eine Pause inklusive, verkürzt wurde, bleiben „naturgemäß“, wie Bernhard gesagt hätte und auch sehr oft zu hören ist, die Bernhard-typischen Wiederholungen, Übertreibungen und das Ausrasten erhalten. Eventuell hätte man ja auf die Verspottungen der Aussprache des (beim Begräbnis auftauchenden) Erzbischofs Spadolini, der rund dreißig Jahre lang auch ein Verhältnis mit Muraus Mutter gehabt hatte, verzichten können. Aber auf die österreichspezifischen Erinnerungen an die Zeit nach dem sogenannten Anschluss ans Dritte Reich – Muraus Mutter war überzeugte Nationalsozialistin, der Vater ein bigotter Mitläufer –, die bei der Veröffentlichung des Romans für einen Skandal hierzulande sorgten, eher nicht. Thomas Bernhards bissiges Bonmot dazu lautet: „Der Nationalsozialismus ist das größte österreichische Übel neben dem Katholizismus.“

Zwei Tage danach feiert die Neuinszenierung der (Untertitel) „Radikalkomödie“ von Werner Schwab „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ am Akademietheater Premiere. Ist der Inhalt auch rasch erzählt – die Unverträglichkeit dreier verfeindeter Hausparteien, bestehend aus Mutter Wurm und Sohn Herrmann Wurm, Vater, Mutter und den beiden Töchtern Kovacic sowie Hausbesitzerin Frau Grollfeuer, führt zum Tod mittels Vergiftung aller –, machen Regisseurin Fritzi Wartenberg und Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh es ihrem siebenköpfigen tollen Ensemble nicht leicht zu folgen. Denn das Publikum blickt nacheinander auf drei je ein Wohnzimmer repräsentierende horizontal gekippte Kulissen quasi von oben. Keine geringe akrobatische Anstrengung, da herumzuturnen, aber die Schauspielerinnen und Schauspieler schaffen es bravourös, und außerdem kommt es bei Werner Schwab ja vor allem auf die Sprache an.

Berüchtigte Figur

Nicht nur die Verwendung lokaler, meist deftiger, gar ordinärer Ausdrücke – es wird sehr oft „gebrunzt“ (hochdeutsch: gepinkelt oder, feiner, Wasser gelassen) und Lulu bedeutet einerseits Urin, andererseits das männliche Geschlechtsorgan –, nein, auch manche höchst sonderbaren Satzkonstruktionen ließen den „Fäkalkomödianten“, der mit nicht einmal 36 Jahren in der Silvesternacht 1993 an Atemlähmung durch zu viel Alkoholgenuss starb, zu einer berühmten, berüchtigten und verehrten Figur werden.

Dass die Regie mit der Rolle des Herrmann Wurm, dieses ziemlich sicher zur Verarbeitung seiner schweren Kindheit geschaffene Alter Ego Schwabs, die grandiose Stefanie Reinsperger betraut hat, ist keine Überraschung und bietet doch Anlass zu großer Freude. Den Abschlussmonolog Frau Grollfeuers – als diese brilliert Franziska Hackl – hätte man vielleicht ein wenig kürzen können. Denn dass die Welt nicht gut ist, wie Grollfeuer mit drastischen Worten ausführt, haben wir uns gerade in diesen, unseren düsteren Tagen auch schon einmal selbst gedacht. Dennoch großer, verdienter Applaus an beiden Premierenabenden.

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