Theater in Paris: Bevor ich dich umbringe, spielen wir beste Freundinnen

vor 13 Stunden 3

Eine tragisch-alltägliche Geschichte. Zwei Mädchen, um die zwölf Jahre alt. Das eine eine Mobberin mit asozialen, in ihrer ungezügelten Gewaltsamkeit beunruhigenden Zügen. Das andere eine Angsthäsin mit Hang zum Fantasieren, wenn nicht gar zum Halluzinieren. Der anfängliche Hass der Erstgenannten schlägt um in eine platonisch-passionierte Herzensfreundschaft. Was die Eltern der Letztgenannten gar nicht gerne sehen. Als sie die beiden trennen, die Tochter gar in ein anderes Land schicken wollen, begeht diese einen Selbstmordversuch.

Eine tragisch-alltägliche Geschichte, aus der andere Autoren und Regisseure eine Anklage der Erwachsenenwelt gemacht hätten. Joël Pommerat, Frankreichs fesselndster Theaterdemiurg, komponiert aus dem Stoff ein radikal-romantisches Nocturne, eine finster-fantastische Nachtmusik, eine Symphonie des Grauens mit fünfzig Nuancen von Schwarz. Für uns evozierte „Les Petites Filles modernes (titre provisoire)“, jetzt am Théâtre Nanterre-Amandiers bei Paris zu sehen, den Stephen King von „Es“, den David Lynch von „Mulholland Drive“, die beunruhigenden „Backrooms“ der Internetkulturen. Klar treten zwei Hauptquellen von Pommerats Inspiration hervor: die – keineswegs sorgenfreie – Kindheit und das – mitnichten zeitlose – Märchen (der heute Zweiundsechzigjährige hat namentlich den Pinocchio-, Rotkäppchen- und Aschenputtel-Stoff adaptiert, für Kinder zwischen acht und hundertzweiundzwanzig Jahren).

Aus Kopfkino geborene Visionen

Zuerst die Kindheit: Marjorie (Marie Malaquias), die Mobberin, und Jade (Coraline Kerléo), die Angsthäsin, lernen wir kennen, wie sie im Vorzimmer des Büros des Pädagogischen Mitarbeiters warten. Erstere bedroht Letztere wie jeder school bully: mit unflätigem Vokabular und unsicherer Syntax; doch die Erwachsenen sind – wie durchweg in dem Stück – unsichtbar, allein präsent durch ihre Stimme aus dem Off. Die Perspektive ist jene von Zwölfjährigen, mit aus Kopfkino geborenen Visionen und einem Tunnelblick ohne Sicht des Gesamtbilds. Die Figuren sind oft verloren; dem Zuschauer geht es genauso.

Marjorie, die Jade zu gefährlichen „Spielen“ gezwungen und den pädagogischen Mitarbeiter aufs Übelste beschimpft hat, wird der Schule verwiesen. Als sie eines Abends uneingeladen bei ihrem Opfer auftaucht, um dieses – laut eigener Aussage – zu ermorden, ereignet sich eine in diesem Alter nicht seltene „psycho-chemische“ Reaktion. Das Zusammentreffen von Rollenspiel („bevor ich dich umbringe… spielen wir, wir wären die besten Freundinnen der Welt“), der Entdeckung eines gemeinsamen Schwarms (des Sternchens Shawn Mendes) sowie einer Art magnetischer Anziehung entgegengesetzter Pole verwandelt Supersäure jäh in Rosenwasser: Die Todfeindinnen werden zum unzertrennlichen Paar. Marjorie offenbart ihre fürchterliche Familiengeschichte – der Vater habe die Mutter ermordet und sich dann selbst umgebracht; der Ziehvater misshandle sie –, Jade gesteht, sie halte die eigenen Eltern für unheilvolle Kreaturen, die zur Schlafenszeit auf der Straße unsägliche Gräuel begingen. Zwar klingt der Vater (Éric Feldman) nicht nach einem Monster, sondern sanft besorgt. Doch aufgrund der erwähnten Erzählperspektive wird der Zuschauer doch etwas irr: Was, wenn die Wahnvorstellungen des Mädchens einen realen Ursprung hätten?

Hilflos herumirrend

So gleitet das Stück bald in die Sphären des Fantastischen hinüber. Zumal ein zweiter Erzählstrang von Beginn an der Welt des Märchens verhaftet ist. Zwei außerirdische Wesen wurden als Strafe für ihre verbotene Liebe in Menschen verwandelt und dazu verdammt, eine Million Jahre lang in unserer Welt zu darben – sie eingeschlossen in einen Kasten, er hilflos um diesen herumirrend. Endlich stößt er auf ein bodenloses Loch, aus dem ein Echo verfremdet antwortet und Wünsche bedingt gewährt – hier jenen, das Strafmaß auf maximal hundert Jahre herabzusetzen.

Doch kurz vor Ablauf dieser Frist kollidieren die beiden Sphären, jene der Kinder und jene der fantastischen Märchenwesen, auf tragische Weise. Als Jades Eltern diese für immer von Marjorie trennen wollen, brechen die beiden Mädchen in der Nacht bei dem Nachbarn ein, einem unheimlichen Greis, dessen angeblich übernatürlichen Kräfte sie für den eigenen Zweck einspannen wollen. Lear auf der sturmgepeitschten Heide trifft in dieser umnachteten Szene auf Computerspiele im Erzählstil des Found Footage – Hyänen lachen da dreckig, Rinder muhen Ominöses, eine Heuschrecke führt endlich zu der Leiter, die den Einstieg ermöglicht.

 Szene aus „Les Petites Filles modernes (titre provisoire)“Verbote verlocken dazu, gebrochen zu werden: Szene aus „Les Petites Filles modernes (titre provisoire)“Théâtre Nanterre-Amandiers/Agathe Pommerat

Verbote verlocken dazu, gebrochen zu werden. Prompt wünscht sich Jade von dem ungetreuen Echo einen Handyanruf von Shawn Mendes. Und bricht damit kurz vor dessen Ablauf den Countdown zur Befreiung des im Kasten eingeschlossenen Wesens ab. Als die beiden Außerirdischen den Mädchen klagen, sie würden einander nun nie wieder sehen, weil jener, der außerhalb der Box Erdenluft atmet, kurz vor dem Tod steht, wirft sich Jade ins Loch.

Leuchtende Pixel rasen durch das dunkle All, die drei Dimensionen fallen ineinander – wir finden Jade auf einem Krankhausbett wieder, hinter einem halbopaken Schleier, der bloß farbige Schlieren sehen lässt. War das Ganze nur ein komatöser Albtraum nach einem missglückten Selbstmordversuch? Ist die Herzensfreundin in Wirklichkeit ein Junge, und das fantasierte Alien-Liebespaar eine Projektion, die mit den Stimmen von Marjorie und von Jades Vaters spricht? „Les Petites Filles modernes (titre provisoire)“ ist ein Gesamtkunstwerk aus Worten, Bildern, Klängen und darstellerischen Leistungen der superlativischen Güte. Und es bildet den Ausnahmefall einer Bühnenschöpfung, die völlig unvorhersehbar, unberechenbar, kurz: unformatiert ist.

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